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Menschenrechte für alle? Politische und theologische Perspektiven

 Referat C. Füllkrug-Weitzel/Brot für die Welt in Schwerte/Haus Villigst am 10.6.08

Inhalt:

I. Theologische und kirchliche Perspektiven
II. Universelle Geltung der Menschenrechte?
III. Unteilbarkeit der Menschenrechte ?
Resümee: 

I. Theologische und kirchliche Perspektiven

Dass der Menschenrechtsgedanke zwar einerseits jüdisch-christlichen Wurzeln entspringt, sich aber andererseits nur gegen erheblichen kirchlichen Widerstand durchsetzen konnte, ist schon fast ein Gemeinplatz: Historisch für Europäer verbunden mit der Französischen Revolution galten sie als Ausdruck heilloser Selbstmächtigkeit und überzogener Freiheitsansprüche und damit als Feinde der ehrwürdigen Machtinstitutionen Kirche und Staat. Dass die gemäß dem Menschenrechtsgedanken jedem Menschen zukommende unveräußerliche Würde sich in dem gleichen Anspruch aller Menschen auf Freiheit, Gleichheit und Teilhabe äußert, war für die der Monarchie eng verbundenen Kirchen ein Problem. Das änderte sich erst, als die Erfahrungen totalitären Machtmissbrauchs unterschiedlicher Couleur und millionenfacher Gewaltausübung gegen eigene Bürger die befürchteten emanzipatorischen Auswirkungen des Menschenbildes der Menschenrechte als ein vergleichsweise kleines Übel erscheinen ließen. Die Schutzwürdigkeit des Einzelnen hingegen wurde angesichts von Stalinismus und Faschismus zu einer der drängendsten politischen Probleme. Und hier wurde der Menschenrechtsgedanke geradezu unumgänglich, stellt er doch die einzige ideologieübergreifende Instanz dar, auf die sich verfolgte oder bedrohte Einzelne und Gruppen berufen können und die Staatsgrenzen übergreifende Gültigkeit besaß.

Kein Zufall darum, dass die Kommission der Kirchen für Internationale Angelegenheiten, ein Vorläufer des erst 1948 gründbaren ÖRK die Menschenrechte als Herzstück einer Gewalt begrenzenden internationalen Ordnung erkannten und die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte gemeinsam mit dem Aufbau der Vereinten Nationen mit großem Engagement begleiteten und beeinflussten, denn die Herrschaft des Rechts in den internationalen Beziehungen galt als deren Basis. Kein Wunder auch, dass die Unumgänglichkeit des Menschenrechtsgedankens und die Notwendigkeit, jedwede Ausübung staatlicher Gewalt an die Gewährleistung der Menschenrechte zu binden und dies völkerrechtlich zu fixieren, von Kirchen weltweit nicht mehr ernsthaft bestritten wurden. Gegenstand von kirchlich-theologischen Kontroversen waren seitdem wesentlich nur noch zwei Fragen: 1. die Frage der theologischen Begründbarkeit und konkreten Begründung der Menschenrechte und 2. ihr Kanon und dessen Unteilbarkeit. Zu ersterem ist eigentlich seit den 70ern alles wesentliche geschrieben worden. Die zweite Frage hat sich mit dem Ende des Kalten Krieges in den europäischen Kirchen offensichtlich weitgehend erledigt, fiel doch damit der Anlass für politische Instrumentalisierung in die eine oder andere Richtung dahin.

Der Kanon der Menschenrechte ist nicht statisch: Er ist seit 1948 gewachsen, am stärksten in den 60ern und 70ern mit den wachsenden Emanzipations- und Beteiligungsansprüchen der dekolonisierten Nationen, der Frauen und der Menschen aller „Rassen“ (falls es denn so etwas gibt). Er wurde auf besonders gefährdete Zielgruppen bezogen (Frauen, Kinder, Wanderarbeitereinnen, Indigene) und er wurde mit den sog. Rechten der Dritten Generation (Recht auf Entwicklung) in eine ganz neue Richtung ausgedehnt. Er ist bis heute nicht abgeschlossen. Sich verändernde Sozialbeziehungen und Machtkonstellationen, bzw. neue Übermachtbildungen und Gefährdungslagen für die Menschenrechte verbunden mit der Kritik an Unzulänglichkeiten des Menschenrechtsschutzes erfordern Konkretisierungen und Erweiterungen des Konzepts. Ähnlich verhält es sich mit der Weiterentwicklung der Inhalte der Menschenrechte, die ebenfalls einem permanenten Wandel unterliegen.

Der biblische Rechtsbegriff ist eschatologisch geprägt: allen geschichtlichen Rechtsordnungen Israels haftet etwas vorläufiges an, sie sind zeitlich und räumlich kontextuelle Versuche, dem Willen Gottes zu entsprechen, aber nie dessen Verwirklichung. Darum können und müssen sie stets weiter entwickelt werden – um den neuen Herausforderungen und neuen Kontexten zu entsprechen und weil sie als Produkte von Menschen nicht ideal, sondern stets offen für Kritik und Verbesserung, da niemals mit der Gerechtigkeit des Reiches Gottes zu verwechseln sind. Sie empfangen von dort aber ihre Zielorientierung. Die – von Israel zunächst in der Wüste auf dem Weg aus seiner Versklavung in die Freiheit des gelobten Landes – Rechtssatzungen sind Orientierungshilfe auf dem Weg zur von Gott verhießenen Freiheit, die je mehr ist, als das, was Menschen erreichen. Daraus ergibt sich ein Ansporn und Verpflichtung zur permanenten Verbesserung der Rechtsregelungen.

Insofern erachte ist es sowohl der Integrität als auch der Politikfähigkeit des Glaubens für angemessen, die Bibel im Verhältnis zu den Menschenrechten nicht als direkte Quelle konkreter Rechte oder umgekehrt als irrelevant für das Menschenrechtskonzept zu halten, sondern sie als Orientierungshilfe und permanente Prüfinstanz zu betrachten: Welche Hinweise und Indikatoren können wir aus der biblischen Überlieferung beider Testamente für die Notwendigkeit und Aufgabe menschenrechtlicher Regelungen – nicht nur grundsätzlich, sondern auch im je gegebenen Fall – erhalten?

Einige davon möchte ich ganz kurz nennen, ohne den Anspruch auf einen nur halbwegs um-fassenden Katalog zu erheben:

1. Die aus der Gottebenbildlichkeit jedes von Gott geschaffenen Menschen abgeleitete Menschenwürde verweist auf deren unverfügbaren Charakter. Daraus leitet sich ihre Unantastbarkeit wie Unbedingtheit ab- jenseits von Verdienst und Würdigkeit. Es ist nicht an Menschen, sie zu- noch abzusprechen.

2. Aus der Gottebenbildlichkeit leitet sich auch die grundsätzliche Gleichheit aller Menschen ab – unabhängig von individuellen oder Gruppenmerkmalen, ihrem Leitungsvermögen und ihren Potentialen etc. Sie wird im Neuen Testament durch die gleichermaßen allen Menschen geltende Liebe Gottes und Zuwendung Christi und durch den Gedanken der Gleichheit der Glieder am Leib Christi weiter begründet.

3. Diese Gleichheit ist eingebunden, oder wie W.Huber formuliert, „findet ihre Wirklichkeit“ in der Solidarität: „in der Solidarität vor allem auch der Privilegierten mit denen, die recht- und hilflos sind, die vernachlässigt oder übersehen werden.“1 Recht des Einzelnen ist im Horizont der Solidarität mit dem jeweils anderen Menschen zu sehen, dem dieselben Rechte zu-zugestehen sind. Zu verwirklichen sind die Rechte des Einzelnen darum nicht im Gegeneinander, sondern im gegenseitigen Respekt – die Rechte des Individuums haben damit ein Ge-fälle auf seine sozialen Pflichten gegenüber der Gesellschaft und speziell den Schwächsten. Hier geht es nicht um das eine oder das Andere, sondern um eine Verschränkung.

1 W. Huber, Die Menschenrechte und das Grundgesetz. Theologische Überlegungen, in: Martin Pfeiffer, Auftrag und Grundgesetz. Wirklichkeit und Perspektiven, S.199

4. Wiewohl in den Rechtsbüchern Israels das Schicksal ganz bestimmter, zu diesen Zeiten besonders bedrohter, Personengruppen im Blick ist und die Rechtssetzungen der Prävention ihres Abstiegs und ihrer ökonomischen Zwangslage dienen, ist es doch immer der Einzelne in Israel, dem Gottes – und im NT Jesu – besondere Zuwendung gilt. Der Schutz gilt dem Individuum und muss sich als Fehlen jedweder Bedrohung von Würde und Leben für jeden Einzelnen bewähren. Er gilt nicht bloß prinzipiell für seine Gruppe, sein Volk etc. Im Reich Gottes ist das Wohlergehen des Einzelindividuums Indikator für das Wohlergehen der Gesamtheit 3 in Gerechtigkeit und Frieden. Dies kommt dem menschenrechtlichen Fokus auf das Individuum als Rechtssubjekt sehr nahe.

5. Weil Israel weiß, was Versklavung bedeutet und sich Gottes Ruf folgend aufgemacht hat, die Realität von Unfreiheit, Unterdrückung und Rechtlosigkeit hinter sich zu lassen und damit auch die Tendenzen dazu in den eigenen Reihen zu bekämpfen, liegt der Fokus der Rechtssatzungen Israels – nachzulesen im Bundesbuch und im Buch Deuteronium – auf Schutzbestimmungen für die ökonomisch besonders Schwachen, die – wie fast in jeder Gesellschaft, so auch in Israel – zugleich die besonders Rechtlosen sind. Und er liegt auf präventiven Regelungen, die der Gefahr sich verstetigender Überausbeutung und Ausgrenzung von Menschen entgegenwirken sollen. Die, deren umfassende Sicherheit und Freiheit durch verfehlte Strukturen und Maßnahmen von Wirtschaft und Politik bedroht und deren Rechte und Würde in Gefahr sind, begrenzt/beschnitten zu werden, besonders zu schützen, war Grund und Aufgabe des Rechts.

Die Kirchen handeln mithin ganz im Einklang mit ihren Glaubensüberzeugungen, wenn sie sich für die Menschenrechte engagieren, sie jedoch nicht mit ihrem Glaubensinhalt, dem verhießenen Reich Gottes und Gottes Recht, verwechseln und sie niemals für perfekt halten. Sie tun gut daran, entsprechend der je neuen Bedrohungslagen an der Weiterentwicklung des Konzeptes und -interpretation der Inhalte der bereits kodifizierten Menschenrechte aktiv mit-zuwirken. Dies kann und sollte im Dialog mit anderen Religionen und Kulturen geschehen, denen die Kirchen einen eigenen Zugang zu den Menschenrechten zutrauen und zugestehen können. Menschenrechte sind kein genuines ‚Gut’ der Kirchen und nicht an die Wahrheitsfrage unseres Glaubens gebunden. Freilich ist es auch ihre Aufgabe, dem Glauben Raum zu schaffen und sich für Religionsfreiheit einzusetzen.

Kirchliche Menschenrechtsarbeit kann sich auf der Basis ihres eigenen Glaubens entschieden für die Unteilbarkeit der Menschenrechte engagieren und besonders für die wirtschaftlichen und sozialen Schutzrechte zugunsten der Menschen, die im sozialen und Wirtschaftsleben ausgegrenzt zu werden drohen oder schon ausgegrenzt sind, stark machen.

II. Universelle Geltung der Menschenrechte?

Im Dezember 2008 wird die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (AEdMR) 60 Jahre alt. Sie ist zum Grundgerüst eine neuen auf universellen Menschenrechtsschutz basierenden Nachkriegsordnung geworden. Aus ihr hat sich inzwischen ein umfassenderes Schutzsystem für Menschenrechte entwickelt, das international auf mindestens acht großen Menschenrechtsverträgen basiert2 und in Afrika, Europa und im Interamerikanischen Raum in regionalen Menschenrechtsschutzsysteme eine weitere Spezifikation erhalten hat. Die AEdMR bildet dabei zusammen mit den beiden grundsätzlichen Menschenrechtsverträgen von 1966, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische (IPBPR) und dem Pakt über wirtschaftli-che, soziale und kulturelle Menschenrechte (IPWSKR) den Kernbestand des Menschenrechtsschutzes, den „International Bill of Human Rights“. Die beiden Pakte sind die vertragsrechtli-che Ausgestaltung der AEdMR, die als solche „bloß“ eine Deklaration der Generalversammlung der Vereinten Nationen ist und damit zum Bereich des weichen Völkerrechts, des sogenannten „softlaw“, gehört. Sie müssen von allen Staaten, die sie ratifizieren in nationales Recht überführt werden und sind damit völkerrechtliches „hard law“. In Kraft traten sie 1976, nachdem eine ausreichende Zahl (36) sie unterzeichnet hatten. Bis heute haben sich mehr als 160 der weltweit knapp über 190 Staaten unterzeichnet. Nimmt man den Stand der Unter-

2 . Neben dem den beiden zentralen Menschenrechtspakten zu bürgerlichen und politischen Rechten und zu wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechten sind es die Konventionen gegen Rassismus und Folter, die Kinderrechtskonvention, die Konvention gegen alle Formen der Diskriminierung der Frauen, sowie die neuen Konventionen zum Schutz von Migranten und von Behinderten. Zeichnung einiger anderer internationaler Menschenrechtskonventionen hinzu, wie der Kinderrechtskonvention (derzeit 191 Staaten) oder der Konvention vor dem Schutz aller Formen der Diskriminierung der Frauen, kann man inzwischen von einer weitgehend universellen Anerkennung des Grundbestandes der Menschenrechte mit Abwehr-, Schutz- und Gewähr-leistungscharakter sprechen. Die Menschenrechte entfalten weltweite Wirkung, weil sie in allen Kulturen der Unterdrückung und Diskriminierung entgegen wirken.

1. Die Entwicklung des Menschenrechtsschutzinstrumentariums war in der Nachkriegszeit allerdings zunächst alles andere als einfach. Im Rahmen des Ost-Welt-Konfliktes und des sich vertiefenden Kalten Krieges wurden Menschenrechte von beiden Konfliktparteien instrumentalisiert. Der Konflikt war auch der Grund, warum man sich nicht auf einen zentralen Menschenrechtstext einigen konnte, sondern 1966 die zwei oben genannten Pakte kodifizierte. Zu Recht verwies der Westen auf die Existenz und Schwere der Menschenrechtsverletzungen rund um den „Archipel Gulag“ und seinen Äquivalenzen in anderen ost-europäischen oder kommunistischen Staaten. Umgekehrt nutzen die Warschauer Pakt Staaten die Menschenrechtsgremien um Armut im Westen und auf Verletzungen der wirtschaftlichen, soziale und kulturellen Menschenrechte hinzuweisen. Der Menschenrechtsdialog war über mehrere Jahrzehnte „vergiftet“ und in seiner Wirkung deswegen auch eingeschränkt.

2. Um so mehr atmeten Menschenrechtler weltweit auf, als Ende der 80er Jahre der alte Systemgraben überwunden wurde. Die Hoffnung war berechtigterweise groß, dass nun eine Einsatz für alle Menschenrechte einfacher werden würde und, von den alten geopolitischen Vor-gaben entlastet, alle Menschenrechtsverletzer zur Verantwortung gezogen werden könnten. In diesem Kontext war die Einberufung der zweiten Menschenrechtskonferenz der Vereinten Nationen im Jahr 1993 in Wien ein Ausdruck der Hoffnung3, nun ohne ideologische Vorgaben an einer der zentralen Aufgaben der Menschheit arbeiten zu können.

3 . Die erste hatte 1968 in Teheran stattgefunden, direkt nach der Verabschiedung der zwei zentralen Menschenrechtstexte in der Generalversammlung.

Die Wiener Konferenz wurde jedoch schnell mit einer Debatte zur kulturellen Universalität der Menschenrechte mit relativistischer Absicht belastet. Dort argumentierten auf der einen Seite asiatische Autokraten und die VR China mit Verweis auf die angebliche Verwurzelung der Menschenrechte in der Kultur des Westens, dass das darin zum Ausdruck kommende ‚westliche ‚individualistische’ Menschenbild den in der eigenen Kultur verwurzelten Rechten der Gemeinschaft widerspräche. Zweifellos spielte die Tatsache, dass von den Menschenrechten in der Tat auch emanzipatorische und kritische Impulse gegenüber Regierungen ausgehen, aber eine nicht minder wichtige, wenn auch nicht ausgesprochene Rolle bei deren Ablehnung. Dieser Impuls muss dort auf Widerstände stoßen, wo althergebrachte Machtverhältnisse, Rollenverständnisse, Normen und Traditionen davon potentiell in Frage gestellt werden. Nicht verwundernswert machten darum auch besonders Regierungen jener traditionell geprägten – islamischen wie christlichen – Gesellschaften in Afrika und dem Fernen wie Nahen Osten, die ihre Macht darauf stützen, Front gegen den universellen Anspruch der Menschenrechte geltend. Und Gegner von Rechten von Frauen griffen auch diese als auf einem nicht universelles Frauenbild basierend an.

Angesichts dieser Debatte ist es bedeutsam, darauf hinzuweisen, dass auch in europäischen Gesellschaften, also selbst in der westlichen Kultur, die Menschenrechte nicht ohne weiteres und unwidersprochen als Teil der eigenen Kultur akzeptiert wurden. Sie sind als Antwort auf massive Unrechtserfahrungen geboren und später auch akzeptabel geworden, die – wie Prof.Heiner Bielefeld, Leiter des Deutschen Menschenrechtsinstituts zurecht erinnert,“ mit dem krisenhaften Umbruch der Gesellschaft zur Moderne einhergingen. Ähnliche strukturelle Unrechtserfahrungen zeigen sich auch heute weltweit, und zwar nicht zuletzt aufgrund der globalen Durchsetzung der modernen Zivilisation, deren Dynamik inzwischen die Kontinente übergreift. Die von Kant bereits vor zweihundert Jahren als Realbedingung eines ‚ius cosmopoliticum’ diagnostizierte weltweite Interdependenz aufgrund derer die „Rechtsverletzungen an allen Plätzen der Erde gefühlt wird“, ist im Zeitalter globaler Massenmedien zu einer beinahe alltäglichen Erfahrung geworden.“4 Die Verwerfungen des Globalisierungsprozesses im Süden dürfen getrost als zentraler Grund für immer stärker aufkommende Auseinandersetzungen um den Geltungsbereich der MR betrachtet werden.

4 Heiner Bielefeld, Universale Menschenrechte angesichts der Pluralität der Kulturen: eine Analyse, Vortrag vom 23. Okt. 2007

5 Dr.Michael Krennerich, Menschenrechte – Merkmale, Rechtsgrundlagen und ‚Generationen’, in: Gabriela M.Sierck, Michael Krennerich, Peter Häußler (ed.), Herausgegeben für die FES und das Forum Menschenrechte, Online Edition 2006/2007.

Auch in Europa war eine kritische Vermittlung zwischen den als ‚modern’ geltenden, weil auf das autonome Individuum zielenden’, Menschenrechten und hergebrachten religiösen und kulturellen Traditionen notwendig – und vor allem: möglich. Das lässt Hoffnung darauf zu, dass sich auch in anderen Kulturen Ansatzpunkte für solch kritische Vermittlung finden lassen, wenn Offenheit und Bereitschaft dazu besteht, sie zu suchen und finden. Denn die Menschenrechte zielen nicht darauf ab, Kulturen zu zerstören oder zu unterhöhlen, sondern in sie im Zuge ihrer ohnehin kontinuierlichen Veränderung (Kulturen sind ja nichts Statisches!) adaptiert und eingebettet zu werden. Impulse dazu sollten aber in der Tat weniger ‚vom Westen’, als vielmehr von innen, von Emanzipation und ein Ende von Diskriminierung erheischenden Gruppen, ausgehen. Erfreulicher weise gibt es mittlerweile auch nicht-westliche Interpretationen der Menschenrechte ohne Zahl.

Genau dies geschah auch auf der Wiener Konferenz: Dass es gelang, die kulturrelativistischen Infragestellungen der universellen Geltung der Menschenrechte zurückzuweisen. Gerade zivilgesellschaftliche Gruppen, Opfer von Menschenrechtsverletzungen aus denselben Ländern, machten deutlich, dass für sie die Universalität der Menschenrechte nicht aufgebbar sei. Die Unrechtserfahrung ist auf allen Kontinenten gleich. Wer Folter erleidet, wessen Familienangehörigen verschwinden, wer zwangsvertrieben wird oder in seinen Rechten aus Frau diskriminiert wird, weiß dass das, was ihr widerfährt, kein Schicksal ist, sondern Rechtsverletzung. Daneben wurde deutlich, dass das Verhältnis von Individuum und Gemeinschaft in jeder Gesellschaft und Kultur auszuhandeln ist und sich nicht als zentraler Streitpunkt zwischen den Kulturen eignet. „Den Menschenrechten ist schon inhaltlich das Programm eingegeben, nicht nur die eigenen Rechte, sondern auch die Rechte des Anderen zu achten und zu schützen. Menschenrechte stehen daher immer auch im Dienste einer freiheitlichen, solidarischen Gesellschaftsordnung. Sehr vereinfacht gesagt: Dort, wo eine ‚Kultur der Menschenrechte’ vor-herrscht und institutionell abgesichert ist, lässt es sich in der Regel nicht nur als Einzelner, sondern auch als Gemeinschaft besser leben, als in einer Gesellschaft, die keine individuellen Menschenrechte kennt und achtet.“5

3. Die in Wien begonnene Infragestellung der universellen Gültigkeit der Menschenrechte erhielt nach dem 11.September neuen Anlass und Auftrieb: Im Kontext des „Krieges gegen den Terrorismus“ und der damit verbundenen Sicherheitshysterie wurde in vielen Ländern die rechtsstaatliche Kontrolle des staatlichen Handelns unzulässig eingeschränkt oder außer Kraft gesetzt und zahlreiche Schutzvorkehrungen vor Übergriffen des Staates abgebaut – vom Datenschutz bis hin zur Telefonüberwachung. In extremen Fällen kam es sogar zu willkürlichen Tötungen, Massenverhaftungen, Verschleppungen, Inhaftierungen ohne Anklage und Gerichtsverfahren sowie Folterungen und Misshandlungen. Als Maßnahme der nationalen Sicherheit im Kampf gegen den Terrorismus deklariert konnten solche Menschenrechtsverletzungen bisweilen mindestens stillschweigende internationale Akzeptanz erheischen. (Beispiel Tschechenien)

Besonders weitreichende Auswirkungen auf den Menschenrechtsdiskurs (und auf den Diskurs über das humanitäre Völkerrecht) haben aber die Verletzungen der Menschenrechte in – als extraterritoriales militärisches Gebiet bezeichneten – Gefangenenlagern durch die USA von Abu Graib im Irak bis zu Guantanamo und den gemeinen Verhören und Verhaftungen durch den CIA in Europa.

Die willkürliche Ausgrenzung von Orten, Akteuren, Opfergruppen und politischen Handlungsfeldern aus dem Geltungsbereich der Menschenrechte hat den Anspruch ihrer Universalität massiv infrage gestellt. Um so mehr als dies von einem der „Mutterländer“ der Menschenrechte der selbst ausging. Die Erosion des Vorbildes des Westens hat es westlichen Nationen schwer gemacht, sich im Menschenrechtsrat glaubwürdig für die Umsetzung der Menschenrechte stark zu machen. Zugleich wurden infolge dieser Erosion auch im Westen selbst wesentliche, vom Menschenrechtskonzept her errichtete Schutzräume für Individuen neu zur Disposition gestellt – wie z.B. die Unbedingtheit des Folterverbotes in Deutschland. Dabei gilt das Folterverbot zu den absolut gültigen, sog. ‚notstandsfesten’, Menschenrechten, die auf keinen Fall eingeschränkt oder verletzt werden dürfen.

Das Misstrauen, mächtige westliche Staaten würden unter dem Deckmantel der Menschen-rechte handfeste Macht- und Interessenpolitik betreiben, erhielt durch den so geführten ‚Krieg gegen den Terror’ erheblich Nahrung. Die Glaubwürdigkeit des universellen Menschenrechtsanliegens hängt in der Tat viel mehr an der Kohärenz in der Menschenrechtspolitik und deren diskriminierungsfreien Handhabung als am theoretischen Diskurs über deren Universalität.

4. Nicht nur im Zuge von 9/11 und nicht nur im Kontext Islam-Christentum nimmt die religiöse Aufladung von Konflikten, d.h. die Instrumentalisierung von Religion für die Durchsetzung anders motivierter Machtinteressen, in vielen Regionen der Erde zu. Religiöse Toleranz und Akzeptanz der Religionsfreiheit sind dadurch derzeit in nicht wenigen Ländern gefährdete Güter. Der Menschenrechtsarbeit nicht nur der Kirchen muss sich dieser Problemlage besonders widmen und dies auch in der Arbeit zur Konfliktbearbeitung berücksichtigen.

5. Eine weitere, nämlich faktische, Beschränkung der universellen Geltung der Menschen-rechte geht von der zunehmenden Zahl schwacher Staaten aus, deren Zahl in den letzten drei Jahren von 17 auf 26 gestiegen ist und in denen fast 500 Millionen Menschen: Schließlich setzt das Einklagen von Menschenrechten gegenüber Staaten voraus, dass diese Staaten nicht nur willig, sondern auch in der Lage sind, Menschenrechte umzusetzen, und dass in dem jeweiligen Staat ein unabhängiges und effizientes Rechtswesen existiert. Dies ist aber in einigen Ländern Afrikas, Asiens und Lateinamerikas noch nicht oder nicht mehr der Fall. Viele Länder sind zu arm, um ihrer Gewährleistungspflicht nachzukommen. Viele Staaten wurden im Zuge der von den internationalen Finanzorganisationen vorgeschriebenen Anpassungsmaßnahmen als Voraussetzung der Umschuldung ihrer Auslandsschulden gezwungen, ihre Staatsausgaben drastisch zu senken. Dies ging nicht selten auf Kosten – ohnehin schwacher – Polizei- und Justizapparate, die zur Verfolgung von Menschenrechtsverletzungen und zur Gewährleistung der Menschenrechtsschutze unumgänglich sind. In Zeiten neoliberalen Globalisierungsdruckes werden schwache Staaten vielfältig zur Ignoranz ihrer menschenrechtlichen Schutz- und Gewährleistungspflichten gedrängt.

In diesem Fall richtet sich der Rechtsanspruch subsidiär gegen die internationale Staatengemeinschaft, die in Form von Entwicklungszusammenarbeit helfen muss, die menschenrechtliche Gewährleistungspflicht der schwachen Regierungen an deren Stelle zu erfüllen. Bisher ist allerdings noch umstritten, inwieweit Staaten nicht nur eine menschenrechtliche Verantwortung für das eigene Hoheitsgebiet, sondern auch sog. ‚exterritoriale Verpflichtungen’ haben, d.h. als international handelnde Akteure menschenrechtliche in der Pflicht stehen. Diese wären dann auf ihr Tun und Unterlassen zu beziehen. Z.B. müsste dann auch die internationale Finanz- und Außenwirtschafts- und Handelspolitik, die zur Schwächung der Fähigkeit vieler Staaten, ihren Bürgern Sicherheit im engeren, aber auch wirtschaftliche und soziale Sicherheit zu bieten, erheblich beigetragen hat, künftig mehr auf Kohärenz mit den kodifizierten Menschenrechten bedacht werden. Wachstums- wie Strukturanpassungsprozesse haben sich z.B. daran messen zu lassen, inwieweit sie in ihrer Umsetzung das Prinzip der Nicht-Diskriminierung beachten.

Brot für die Welt macht sich seit Jahren dafür stark, die extraterritoriale Geltung von Menschenrechten zu einer festen juristischen Kategorie zu machen. Bereits im Jahr 2001 hatte Brot mit dem EED und mit FIAN einen Parallelbericht für das UN-Komitee für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte vorgelegt, in dem analysiert wurde, wie sich die deutsche Außenpolitik und Außenwirtschaftspolitik auf die Menschenrechtssituation in dritten Staaten auswirkt. Mit der Förderung der extraterritorialen Staatenperspektive gehört Brot für die Welt international zu einem der Vorreiter bei dem Versuch, angemessene menschenrechtliche Regulierungen für das Zeitalter der Globalisierung zu entwickeln.

6. Noch dramatischer stellt sich die Lage in sog. ‚zerfallenen’ oder zerfallenden Staaten’ Afrikas dar, in denen es praktisch keine politische Zentralgewalt mehr gibt, die den Schutz der Bürger vor Bedrohungen ihres Leibes und Lebens gewährleisten könnten. Rechtsstaatliche Rechenschaftspflicht (accountabiltiy) ist dabei nicht mehr anzuwenden. Dennoch bleiben Menschenrechte gerade für die Betroffenen von Verletzungen ein zentraler Referenzrahmen, innerhalb dessen deutlich wird, was Recht und was Unrecht ist. Im Einzelfall muss hier ge-fragt werden, wer jeweils in dem betroffenen Gebiet staatsähnliche Gewalt ausübt.

In diesem Kontext und darüber hinaus sind die meisten gegenwärtigen Konflikte innerstaatliche Konflikte ohne klassische innerstaatliche Konfliktlinien. Die „Neuen Kriege“ zeichnen sich vielmehr durch eine Zunahme der Gewaltakteure und sog. ‚Privatisierung der Gewalt’ aus. Verschiedene bewaffnete Gruppen, die sich durch ökonomische Aktivitäten (Diamanten-handel, Drogen etc.) finanzieren, führen neue Gewaltformen und eine sehr schwer zu kontrollierende Form von Übergriffen ein.

Solche Situationen weisen mithin auf einen Bedarf, im Rahmen des Menschenrechtsschutzes auch über die Verantwortung und Einbindung von nicht-staatlichen Akteuren in das MR-Konzept nachzudenken.

7. Gerade die schrankenlose Gewaltanwendung von rivalisierenden Clans, Banden etc. auf dem Boden zerfallender Staaten hat die Debatte weiter beflügelt, die in Fällen von drohendem oder vermuteten Völkermord wie in Ruanda, Kosovo, Darfur etc. aufgetaucht war: Gehört zur Durchsetzung der weltweiten Gültigkeit der Menschenrechte im Falle krasser massenhafter und systematischer Verletzungen nicht auch eine Pflicht und ein Recht der Völkergemeinschaft zur Intervention (‚responsibility to protect’)? Boutros Boutros-Ghali hat in seiner Zeit als UN-Generalsekretär die Frage nach dem „Gleichgewicht zwischen der staatlichen Souveränität und den Anforderungen einer zunehmend verflochtenen Welt“ im Zusammenhang solcher Interventionsverpflichtung aufgeworfen, die das Souveränitätsrecht einschränken würde. Zweifellos gibt es im Namen der universellen Geltung der Menschenrechte, auf die sich die Völkerwelt als Grundlage einer internationalen Friedens- und Rechtsordnung geeinigt hat, eine Pflicht zur politischen und gegebenenfalls auch wirtschaftlichen Einmischung in Gestalt von Sanktionen. Dafür muss im gegebenen Fall alle politische Phantasie, Willen und viel Geld aktiviert werden. Ich persönlich bin noch skeptisch gegenüber dem Recht oder gar 8
der Pflicht zu militärischer Intervention zugunsten der Beendigung massenhafter Menschenrechtsverletzungen. Dies zum einen, weil in keinem der bisher diskutierten oder exerzierten Fälle die dazu gehörende strikteste Bindung an klare völkerrechtliche Regelungen gewährleistet war und die eigene politische und wirtschaftliche Zweckfreiheit derer, die die Intervention betrieben, glaubhaft war. Das trägt zur Vergrößerung des Glaubwürdigkeitsverlustes der internationalen Menschenrechtspolitik bei. Zum anderen aber kann eine menschenrechtsorientierte Politik nur dann glaubwürdig sein, wenn sie alle nur denkbaren Alternativen zur militärischen Intervention ausgeschöpft hat, bevor dieser Gedanke auch nur erwogen wird. Das war bisher nicht der Fall!

III. Unteilbarkeit der Menschenrechte ? 

Auf der Wiener Menschenrechtskonferenz 1993 erhielten die wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Menschenrechte durch den Verweis auf die Unteilbarkeit von Menschenrechten und den engen Zusammenhang ihrer Umsetzung eine deutliche Aufwertung. Wenn Menschen für einen Staudammbau ohne angemessene Entschädigung umgesiedelt werden, wird nicht nur ihr Recht auf Nahrung verletzt, sondern auch zahlreich bürgerliche und politische Rechte wie der Anspruch auf ein faires Verfahren, Beteiligungsrechte in der Entscheidungsfindung etc. Der Konsens von Wien war angesichts dieser Debatten umso erfreulicher. „All human rights are universal, indivisible, and interrelated” („Alle Menschenrechte sind universell, un-teilbar und bedingen einander“), so lautet das neue Credo von Wien, dass die Menschenrechtsarbeit bis heute prägt.

Entsprechend wurden – nicht zuletzt unter dem zunehmenden Druck der Zivilgesellschaft weltweit – in den letzten Jahren einige positive Schritte in Richtung Weiterentwicklung der WSK-Rechte unternommen. Als neues Instrument des internationalen Menschenrechtsschut-zes, das die Verbindlichkeit der Einhaltung der WSK-Rechte durch die Unterzeichnerstaaten erhöhen hilft, wurde die Institution des UN-Sonderberichterstatters zum Recht auf Nahrung, Wohnen, Bildung und Gesundheit, Independent Expert on Water and Sanitation eingerichtet. Im regionalen Schutzsystem sind wegweisende Gerichturteile, z.B. zur Ölexploration in Nigeria im Afrikanischen MR-Schutzsystem, zu verzeichnen. Eine inhaltliche Konkretisierung – notwendig zur Umsetzung und deren Monitoring – stellen die ‚Freiwilligen Leitlinien der FAO zur Umsetzung des Rechts auf Nahrung’ dar. Anhaltende Widerstände gegen solche Schärfung der Instrumente im WSK-Bereich kommen vor allen von jenen Kreisen und Regie-rungen, die profilierte Anhänger neoliberaler Deregulierung sind. Darum schwelt z.B. die Auseinandersetzung um ein Zusatzprotokoll zum WSK-Pakt noch immer, das Individualbeschwerden erlauben würde. Wie bei den Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung kommen die schärfsten Widerstände hierbei aus U.K. und den USA.

IV. Menschenrechte in Zeiten der Globalisierung 

Dies ist kein Zufall, werden doch die WSK-Rechte von ihren Befürwortern nicht zuletzt in Zeiten der Globalisierung als wichtige Regelungs- und Eindämmungsmaßnahme gegen einen globalen Marktwettlauf auf Kosten der Schwachen betrachtet:

Sie können helfen, die Gewährleistungspflichten der Nationalstaaten und der Völkergemeinschaft (extraterritoriale Menschenrechte) mit Blick auf den Schutz der Schwachen und Hilflosen vor Hunger, Durst, Krankheit, Analphabetismus etc. zu beschreiben. Die meisten Staaten weltweit könnten deutlich mehr für eine gerechtere Verteilung im Zugang zu produktiven Ressourcen leisten, als sie derzeit tun – und zwar national wie international. Viele von ihnen nutzen das Globalisierungsargument als Alibi dafür, dass sie nicht das „Maximum der verfügbaren Ressourcen einsetzen“, um diese Rechte umzusetzen, wie es etwa im Art. 2 des Paktes über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte gefordert wird.

Gleichzeitig ist wahr, dass die politische Regulierungsmacht Staaten – vor allem des Südens – im globalen Standortwettbewerb schwächer geworden ist (von den ohnehin fragilen Staaten – s.o. – zu schweigen). Die neue internationale Wettbewerbssituation macht es besonders für arme Nationalstaaten zunehmend schwieriger, vorhandene Sozial- und Umweltstandards zu verteidigen oder gar neue Standards durchzusetzen. Im Bemühen, möglichst viele ausländische Direktinvestitionen anzuziehen, sind sie zu weitgehenden Zugeständnisse an die Unter-nehmen bezüglich der Umwelt- und Sozialauflagen bereit. Die Verhandlungsmacht privater Akteure ist dadurch enorm verstärkt worden. Darüber hinaus ‚entmachten’ internationale Rahmenbedingungen wie bilaterale oder regionale Handelsabkommen oder auch Auflagen internationaler Finanzinstitutionen die Staaten in ihrer Regulierungsfähigkeit nicht nur in Handelsfragen, sondern inzwischen weit darüber hinaus bis hin zu Fragen, wie und in welcher Form Dienstleistungen zu erbringen oder Investitionen zu handhaben sind. Dazu gehört auch der Druck zur Privatisierung staatlicher Aufgaben, der ebenfalls die Macht privater Akteure verstärkt – allen voran internationale Konzerne (TNCs). In den bereits erwähnten fragilen Staaten, in denen Staatlichkeit nur noch rudimentär funktioniert, operieren internationale Konzerne – in der Regel im Schutz privater Sicherheitskräfte – völlig ohne jede MonitoringInstanz und Auflagen.

Die Aufgabe der Kontrolle privater Akteure lag historisch beim Nationalstaat. Dieser kontrollierte die Einhaltung von arbeitsrechtlichen Standards, Umweltauflagen oder die Produktsicherheit. Diese Aufgaben werden in westlichen Industrieländern in der Regel auch nach wie vor vom Nationalstaat bzw. der EU wahrgenommen. Die Kontrollaufgaben sind zu Teilen an private Akteure übergeben worden, dennoch hat der Staat die Aufgabe, sicherzustellen, dass die privaten Akteure den staatlichen Vorgaben Folge leisten.

Angesichts des Verhaltens etlicher – vor allem – transnationaler – Unternehmen, diese neue Macht dazu auszunutzen, unter menschenrechtsverletzenden Umständen im Süden produzieren zu lassen (incl. Kinderarbeit und ‚moderne’ Formen der Zwangsarbeit) und der faktischen Ohnmacht vieler Nationalstaaten, solche Praktiken zu verhindern, gegf. zu überwachen und unterbinden, wofür sie zwar völkerrechtlich verantwortlich gemacht werden könnten, was aber praktisch die Bewegungsfreiheit der TNCs, in ihrem eigenen Geschäftsgebaren Menschenrechtsverletzungen zu produzieren, fördern oder tolerieren, nicht beschränken würde, mehren sich die Stimmen und Versuche, Wirtschaftsunternehmen als nicht-staatliche Akteure direkt in die Pflicht zu nehmen, die Menschenrechte zu achten. Völkerrechtlich gab es zahl-reiche Bemühungen, rechtlich bindende Standards für die Tätigkeit von Firmen zu entwickeln. Wichtigster Ort hierfür ist die älteste Sonderorganisation der Vereinten Nationen, die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Sie hat inzwischen mehr als 185 Konventionen geschaffen, die von einer unterschiedlichen Anzahl von Ländern ratifiziert wurden. Was ihr in den letzten Jahren sehr gut gelungen ist, ist die Absicherung eines Basisverständnisses von Kernarbeitsnormen. Acht zentrale Konventionen der ILO wurden unter dem Stichwort Kernarbeitsnormen zusammenfasst und in einer ILO-Konferenz von allen Mitgliedern noch einmal als zentrales Normenwerk bestätigt. Die Kernarbeitsnormen decken allerdings nur den Mindestschutzbedarf ab, wie Schutz vor Sklaverei und anderen Formen ausbeuterischer Arbeit, Schutz vor Diskriminierung, das Verbot der Kinderarbeit und das Recht sich zu organisieren.

Andere Versuche, international verbindliche Regel für unternehmerisches Handel zu formulieren, sind bislang noch nicht weit gediehen. Anfang der 1980er Jahre wurde unter dem Dach von UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development) versucht, einen Verhaltenskodex für TNCs zu erstellen. Das Vorhaben wurde nach mehreren Jahren erfolgloser 10 Verhandlungen eingestellt. Das Bemühen, Umwelt- und Sozialstandards im Regelwerk der WTO zu verankern und dadurch Importbeschränkungen gegenüber Produkten zu erlauben, die unter Verletzung bestimmter anerkannter Standards produziert wurden, scheiterte am Wider-stand der Entwicklungsländer bereits 1996 auf der Ministerkonferenz von Singapur. Neue Hoffnungen auf eine möglicherweise verbindliche Fixierung von Normen für Unternehmen enstanden, als die Unterkommission für Menschenrechte der Vereinten Nationen im Jahr 2003 UN-Normen für Unternehmen verabschiedeten, die weit über die Kernarbeitsnormen der ILO hinausreichten. Diese Normen sind allerdings bislang von keinem zwischenstaatlichen Gremium angenommen worden. Da es mit John Ruggie seit 2005 einen besonderen Repräsentanten der Vereinten Nationen für das Thema Transnationale Konzerne und andere Unternehmensformen gibt, bleibt das Thema der UN-Normen für TNCs jedoch auf der Agenda. Ruggie hat erst letzte Woche (03.06) seinen ersten umfassenden Bericht dem Menschenrechtsrat vorgestellt. In dem Bericht sind viele Ideen enthalten, wie TNC stärker an Menschenrechtsstandards herangeführt werden kann. Brot für die Welt begrüßt diesen erste Schritt, dem nun aber auch konkrete Umsetzungsschritte auf Seiten der Vereinten Nationen folgen müssen.

Auf Grund der stockenden Entwicklung verbindlicher internationaler Rechtsinstrumente, ha-ben vor allem freiwilligen Instrumente an Einfluss gewonnen. Unternehmen aus allen Teilen der Welt bevorzugen ohnehin freiwilligen Instrumente, da sie mehr unternehmensspezifische Anpassungen erlauben. Die wachsende internationale Öffentlichkeit für die sozialen und öko-logischen Auswirkungen von Unternehmenstätigkeiten hat im letzten Jahrzehnt zu einer enormen Zunahme solcher freiwilliger Instrumente geführt und mit dazu beigetragen, dass das Thema „Corporate Social Responsibility“ (CSR) zu einem entscheidenden Thema in vielen Firmen geworden ist. Nicht wenige Unternehmen haben inzwischen eigenständige Beauftragte für CSR.

Bislang besteht mit dem ‚Global Compact’ auf UN-Ebene lediglich ein Lern- und Dialogforum zwischen UN, TNCs und Zivilgesellschaft zu best practises. Es geht vom freiwilligen Bekenntnis zu den Menschen- und Arbeitsrechten und zur Umwelt aus – Regierungs- und Santionsmechanismen gibt es nicht.

In den 1990er Jahren haben zahlreiche Firmen begonnen, entweder in Form von firmen- oder branchenspezifischen Verhaltenskodizes freiwillige Selbstverpflichtungen auf bestimmte soziale und ökologische Standards einzugehen. Die einzelnen Kodizes unterscheiden sich je-doch erheblich in ihrem Verpflichtungsumfang sowie in den Kontroll- und Sanktionsmechanismen. Im Umfeld dieser Kodizes ist inzwischen auch eine private Industrie der Überwachung entstanden bzw. traditionelle Auditing Firmen haben sich ein neues Arbeitsfeld im Be-reich von Sozial- und Ökoaudits erschlossen. Kritiker haben von Beginn an auf die Gefahr einer zu großen Willkür bei der Standardsetzung hingewiesen. Diese Probleme sind durch die Bekräftigung der Kernarbeitsnormen durch die ILO im Jahr 1998 etwas geringer geworden, da sie sich als Referenzgröße erweisen. Die Überarbeitung der ebenfalls freiwilligen OECD Leitsätze für Multinationale Unternehmen im Jahr 2000 hat zudem ein weiteres Referenzdokument geschaffen, dass von vielen Firmen für ihre freiwilligen Selbstverpflichtungen genutzt wird.

In unserer eigenen Arbeit haben wir gerade im Bereich der Auswirkungen extraktiver Industrien in Afrika (Bergbau, Erdöl etc). begonnen, uns intensiver mit der Frage der Kontrolle von Firmen zu beschäftigen. Wir beteiligen uns dabei beispielweise an den internationalen Netz-werken zu „Publish what you pay“ und den Extractive Industries Review Initiative, die beide versuchen Transparenz in die Geldströme rund um extraktive Industrien zu bekommen. Wir haben zudem mit Partnertrainings begonnen zu der Frage, wie Afrikanische Partner die OECD-Leitlinien und ihrer Beschwerdestelle besser nutzen können. Mit dem European Centre for Constitutional and Human Rights wollen wir in den kommenden Monaten prüfen, wie TNCs aus Europa besser vor europäischen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden können, für Menschenrechtsverletzungen, die sie im Ausland mitverantworten müssen. Wir haben als Hilfswerk die Aufgabe hier kreativ voranzudenken. Von unseren Partner werden wir darum gebeben. Wir werden diese Arbeit deshalb intensiv im Rahmen unsere Möglichkeiten fortsetzen.

Resümee: 

Menschenrechte stellen heute ein konstitutionelles Minimum der Weltgesellschaft. Kein ande-rer Katalog mit vergleichbarer universeller Akzeptanz könnte in absehbarer Zeit entwickelt werden. Es ist daher unsere dringende Aufgabe, die Leistung und Bedeutung der Menschen-rechte zu verteidigen. Für uns als Werk der kirchlichen Entwicklungsarbeit ist die Menschen-rechtsarbeit zu einem festen Pfeiler unserer Arbeit geworden, vom Schutz verfolgter Partner bis hin zum deutschen Außenwirtschaftspolitik, die Benachteiligung überwinden hilft.

Angesichts der skizzierten Herausforderungen sind Kampagnen wie die geplante der Ev. Kir-che in Westfalen „Globalisierung gestalten – Staat und Kirchen herausgefordert zu Recht und Frieden in der einen Welt“ ausgesprochen wichtig. Wir haben als Kirchen den Auftrag aktiv für die Durchsetzung der Menschenrechte zu sein – in den uns zukommenden Begrenzungen als kirchlicher Akteur.