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Globales Lernen – Bildung im Zeitalter der Globalisierung

Vortrag an der Ev. Hochschule Ludwigsburg 1. Dezember 2010

Inhalt:

1. Begriff, Geschichte und Aufgabe des Globalen Lernens 
2. Warum ist Globales Lernen wichtig? 
3. Globales Lernen und Ökumenisches Lernen 
4. Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen als Promotoren Globalen Lernens 
5. Schluss

Die Globalisierung verlangt neue Antworten – neue politische Antworten vor allem, aber auch neue pädagogische Antworten. Bei der Suche nach pädagogischen Antworten auf die Globalisierung muss es um die Frage gehen, wie sich Menschen in ein kosmopolitisches Bewusstsein einüben können. Anders gefragt: Wie können sich Menschen einleben in ein Weltbürgertum, das sich nicht nur den Interessen der eigenen Nation verpflichtet weiß, sondern das in größeren – nämlich globalen – Zusammenhängen denkt und lebt?

Keine Frage, dass den Schulen und Hochschulen hier eine wichtige Rolle zukommt. Es freut mich außerordentlich, an einer Hochschule einen Vortrag halten zu können, deren Selbstverständnis sich durch „Lehre und Forschung im internationalen Kontext“ auszeichnet. „Internationale Soziale Arbeit“ oder „Internationale Religionspädagogik und Soziale Arbeit“ kann man hier studieren und sich dabei (jeweils) mit „Internationalen Perspektiven auf Menschenrechtsfragen, Friedensarbeit und soziale Gerechtigkeit“ beschäftigen. Ich muss gestehen: Ich finde dieses Studienangebot ziemlich beeindruckend. Als ich Studentin war, gab es solche Studiengänge leider noch nicht. Es ist großartig, dass die Hochschulen – zumindest Ihre Hochschule – so weit ist. Und es ist großartig, dass sich die diesjährige Preisträgerin des Förderkreises der Carl Duisberg Gesellschaft im Rahmen eines solchen Studienganges mit der Lebenssituation von Kindern in Tansania auseinandersetzen konnte.

1. Begriff, Geschichte und Aufgabe des Globalen Lernens

Die Globalisierung verlangt neue Antworten, auch neue pädagogische Antworten. Die Antwort auf die vielfältigen Herausforderungen des Lernens im Zeitalter der Globalisierung wird heute gemeinhin mit dem Begriff des „Globalen Lernens“ bezeichnet.1 Dieser Terminus taucht im deutschen Sprachraum erstmals um 1990 auf und bezog sich damals auf den global-education-Diskurs, der in den USA immerhin seit den siebziger Jahren belegt ist.

1 Wesentliche Anregungen für diesen Vortrag verdanke ich der Habilitationsschrift von Klaus Seitz: „Bildung in der Weltgesellschaft. Gesellschaftstheoretische Grundlagen globalen Lernens“, Frankfurt/M 2002.

Die Sache, um die es geht, ist jedoch wesentlich älter als unsere heutigen Begriffe. So hatte bereits Jean Piaget folgende brisante – und weiterhin gültige – Zeitdiagnose entfaltet: „Das Kollektive ereignet sich heute in einer neuen Größenordnung: alles, was wichtig ist in unseren Gesellschaften, ist international. (…) Auf diese durchaus banale Sachlage weist inzwischen jeder mit Nachdruck hin. Verstehen jedoch tun wir von dieser Sachlage nichts. Wir sind psychologisch nicht an unseren sozialen Zustand angepasst, wir kommen nicht mehr mit. (…) Dieses Universum vielschichtiger Beziehungen und komplizierten Aufeinanderangewiesenseins begreifen wir nicht, weder moralisch noch intellektuell.“

Piaget hat die hier zitierte Rede 1932 in Genf vor einer Konferenz internationaler Reformpädagogen vorgetragen – am Vorabend der Machtübernahme des Faschismus in Deutschland und an der Schwelle zur Katastrophe des zweiten Weltkrieges, die die Tradition einer internationalen Erziehung im europäischen Raum auf lange Sicht hinaus verschüttet hat. Piaget bringt darin das Ausgangsproblem des „Globalen Lernens“ zum Ausdruck. Interessanterweise greift der Club of Rome 50 Jahre später dieses Problem wieder auf und bezeichnet es als „human gap“: die Kluft also zwischen der wachsenden Komplexität unserer Welt einerseits – und andererseits der begrenzten Fähigkeit des Menschen, sie zu bewältigen. Allerdings: Diese Kluft kann und muss durch Bildung und Lernen überbrückt werden!

Zuletzt hatte es vor achtzig Jahren im Rahmen der Weimarer Republik nochmals ernsthafte Bemühungen gegeben, das Konzept einer weltbürgerlichen Erziehung bildungspolitisch zu verankern. Bei der Reichsschulkonferenz 1927 wurde folgender Vorschlag zur Revision des Artikels 148 der Weimarer Verfassung diskutiert: „Die im Artikel 148 geforderte Staatsbürgerkunde ist zu einer Gemeinschaftskunde zu erweitern, die den jugendlichen Menschen in die typischen Formen menschlicher Gemeinschaft einführt. Ethisches Ziel ist die Gemeinschaftsgesinnung, die sich entsprechend den Lebenskreisen des Kindes bis zur weltbürgerlichen Gesinnung ausweitet.“ Die Initiatoren scheiterten jedoch mit ihrem Vorhaben – und die Weltbürgeridee wurde dann wie bereits angedeutet in der Zeit des Faschismus ohnehin verteufelt und fiel auch beim bildungspolitischen Wiederaufbau nach dem Zweiten Weltkrieg dem Vergessen anheim.

Dies hat sich in jüngster Zeit geändert. So kann man beispielsweise in den Bildungsstandards für den Fächerverbund „EWG“ an Realschulen in Baden-Württemberg folgende Leitgedanken lesen: „Die Schüler/innen verhalten sich demokratisch, tolerant und ethisch verantwortlich in einer zusammenwachsenden Welt. Sie vertreten die Rechtsnormen und Werte der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und übernehmen diese Errungenschaften als Orientierungen auf ihrem Weg hin zu selbständig denkenden, in ethischer Verantwortung handelnden Weltbürgerinnen und Weltbürgern.“ (Bildungsplan 2004)

Andererseits ist natürlich weiterhin in der Verfassung mancher Bundesländer als Auftrag der Schule festgehalten, die Jugend in „Liebe zu Heimat, Volk und Vaterland“ zu erziehen. Und schließlich wirkt nach, was die Erziehungswissenschaftler „das nationale Paradigma“ nennen: Denn der Aufbau des modernen Bildungssystems ging im 19. Jahrhundert einher mit der Entstehung der Nationalstaaten. Entsprechung wurden Erziehung und Bildung für den Aufbau einer nationalen Identität in die Pflicht genommen. Funktion und Profil der Bildung wurden und werden oftmals bis heute im nationalen Horizont interpretiert. So hat sich das Diktum des liberalen Theologen Schleiermachers, „daß jede Erziehungslehre, sobald sie anwendbar sein soll, sich nur in dem Gebiete einer Nationalität festsetzen könne“, nachhaltig in der Pädagogik eingenistet.

2. Warum ist Globales Lernen wichtig?

 


Was also soll demgegenüber Bildung im Sinne eines Globalen Lernens heute leisten? Bil-dung, so kann man im Anschluss an Piaget sagen, muss die dringend benötigte Welt-Orientierung vermitteln, damit wir die neue komplexe Wirklichkeit der weltumspannenden Verflechtungen intellektuell und moralisch begreifen lernen und uns in die Gestaltung der Globalisierung einbringen können.

Man kann weiter fragen: Warum ist Globales Lernen überhaupt so wichtig? Als Antwort auf diese Frage möchte ich hier die These vertreten, dass die Bildung eines weltbürgerlichen Bewusstseins für die Gestaltung der Globalisierung geradezu unverzichtbar ist. Warum? Die Nationalstaaten werden als politische Organisationsformen sicher nicht von der Bildfläche verschwinden. Globalisierung bedeutet zunächst, dass die Verdichtung von kultureller, sprachlicher, wirtschaftlicher und politischer Einheit auf einem von Staatsgrenzen abgezirkelten Territorium unwiderruflich auseinandergebrochen ist. „Gesellschaftliche Globalisierung“ kann dabei verstanden werden als ein Prozess der Ausdehnung der sozialen Zusammenhänge über die nationalstaatlichen Grenzen hinaus. Der Begriff „politische Globalisierung“ legt demgegenüber das Augenmerk stärker auf die Abnahme von Einfluss und Reichweite nationaler Institutionen auf die Politikgestaltung.

Vor diesem Hintergrund stellt sich die Frage, wie auf der supranationalen Ebene politische Regulationsmacht wiedergewonnen und zugleich mit demokratischer Legitimation ausgestattet werden kann. Die Antwort auf diese Frage wird heute mit dem Begriff der „Global Governance“ bezeichnet. Damit ist ein mehrstufiges Institutionen- und Regelsystem gemeint, das staatliche, zivilgesellschaftliche und multilaterale Akteure gleichermaßen in die Bewälti-gung grenzüberschreitender Probleme einbindet.

Und damit zurück von der Politik zur Pädagogik: Ein solches Global-Governance-System kann m.E. nur auf der Grundlage einer weltbürgerlichen Solidarität entstehen und funktionieren. Und aus diesem Grund kommt der weltbürgerlichen Bildung eine entscheidene Rolle zu: Die Entfaltung eines weltbürgerlichen Bewusstseins, der kollektiven Identität einer Weltgesellschaft, deren Mitglieder sich wechselseitig die gleichen Menschenrechte zugestehen, ist Voraussetzung für die Bewältigung der globalen Herausforderungen unserer Zeit. So verstanden meint Globales Lernen Persönlichkeitsbildung im Welthorizont. Globales Lernen orientiert sich an der Leitfrage, welche Fähigkeiten ein Mensch braucht, um unter den Bedingungen einer gefährdeten Weltgesellschaft ein gelingendes, aber zugleich eben auch verantwortungsvolles Leben führen zu können.

3. Globales Lernen und Ökumenisches Lernen

 


Der Kirche ist die Aufgabe des Globalen Lernens gewissermaßen schon immer in die Wiege gelegt. Christinnen und Christen gehören zu einer nationale Grenzen überschreitenden Gemeinschaft. Die eine weltweite Kirche – das sind Kirchen unterschiedlicher Konfessionen in unterschiedlichen Ländern auf der ganzen Welt. Brüdern und Schwester – das sind Menschen in ihren lokalen Kirchen auf der ganzen Welt. Als Kirche können wir gar nicht anders, als global – bzw. ökumenisch – zu denken.

Der ökumenische Theologe Ernst Lange hat das seinerzeit so formuliert: „Das christliche Gewissen muss sich einleben in den größeren Haushalt der bewohnten Erde.“ Ökumene – das meint die Verbundenheit von Menschen in der einen weltweiten Kirche, ja in der Einen Welt! Ökumene – das ist die Gemeinschaft der Menschen in dem einen großen Haushalt der bewohnten Erde! Es ist kein Zufall, dass sich zumindest in Deutschland der Ansatz des „Globalen Lernens“ in enger Tuchfühlung mit der historisch älteren Traditionslinie eines „Ökumenischen Lernens“ entwickelt hat. Globales Lernen kann insofern auch als eine säkularisierte Fortschreibung des ökumenischen Lernens verstanden werden.

4. Die Rolle zivilgesellschaftlicher Organisationen als Promotoren Globalen Lernens

 


Es ist historisch und pädagogisch interessant, dass der Ansatz des Globalen Lernens nicht im erziehungswissenschaftlichen-akademischen Zusammenhang entstanden ist. Er hat sich viel-mehr vor allem aus der Reflexion der pädagogischen Praxis sozialer Bewegungen, insbesondere der Dritte-Welt-, Umwelt- und Friedensbewegungen, entwickelt.

Zivilgesellschaftliche Initiativen stellen für die in ihnen Engagierten wichtige Räume für in-formelle politische Bildungsprozesse dar. Für das Feld des entwicklungsbezogenen Lernens in Deutschland spielten und spielen dabei die entwicklungspolitischen NGOs wie auch die Dritte-Welt-Bewegung insgesamt eine tragende Rolle. Die „Dritte-Welt-Bewegung“ hat sich in den vergangenen Jahrzehnten als Motor und wichtigste soziale Basis der entwicklungspolitischen Bildung in Deutschland erwiesen. Die in den 1970er Jahren entstandene entwicklungs-pädagogische Diskussion speiste sich aus der Bildungspraxis der Internationalismus- und Solidaritätsbewegung. Wegweisende Konzepte der Bildungsarbeit sind aus den Aktionsformen dieser sozialen Bewegung heraus entstanden, gewissermaßen als theoretische Reflexion einer erprobten Praxis des Lernens in Aktionsgruppen und Bürgerinitiativen.

Bis hin zum mühsamen Entstehungsprozess des 2007 von der Kultusministerkonferenz verabschiedeten „Orientierungsrahmens für den Lernbereich ‚Globale Entwicklung’“ setzt sich die Erfahrung fort, dass es vor allem des Anschubs von Seiten der NGOs bedurfte, um globale Perspektiven im Schulcurriculum verankern zu können.

Die sozialen Bewegungen spielen auch für die Didaktik der politischen Bildung im außer-schulischen Raum eine wichtige Rolle. Dabei geht es gar nicht so sehr um die öffentliche Außenwirkung der von ihnen betriebenen Bildungsarbeit, als vielmehr um den Lern- und Bildungsprozess, der innerhalb der Netzwerke selbst stattfindet. Denn die Arbeit in unabhängigen Initiativen und Weltläden ist selbst eine Lerngelegenheit, in der die Engagierten oftmals erste politische Erfahrungen sammeln, sich Kompetenzen aneignen und ihr Urteilsvermögen schulen. Die Verflechtung von eigener Fortbildung und der Vermittlung des Angeeigneten in die Öffentlichkeit, von der Entwicklung phantasievoller Aktionsformen nach außen und der eigenen mühsamen Konsensfindung nach innen, eröffnet aktivierende Formen selbstbestimmten und selbstorganisierten politischen Lernens.

Im Unterschied zum institutionalisierten Lernen zeichnet sich das Lernen in sozialen Bewegungen vor allem durch den Modus der Freiwilligkeit, die Umkehrbarkeit von Lehr- und Lernrollen, die Verknüpfung von Lernen und Handeln, die gleichberechtigte Zusammenarbeit mehrerer Generationen und die Aufhebung der Trennung von Alltag und Politik aus. (Dies ist freilich eine idealtypische Beschreibung des Lernens in Bewegungen, die nicht immer der Praxis entspricht.)

Das Lernen an außerschulischen Lernorten und in außerschulischen Lernzusammenhängen wird das Lernen in Schule und Hochschule sicher nicht ersetzen. Aber wenn der Befund der Bildungsforscher stimmt, dass eine Vielzahl von biographisch bedeutsamen Lernprozessen in informellen Zusammenhang außerhalb der Bildungsinstitutionen stattfindet, dann wird es sicherlich darum gehen müssen, schulische und außerschulische Lernorte, „Lehre und Leben“, sinnvoll aufeinander zu beziehen.

Damit ich nicht schon wieder die Ev. Hochschule Ludwigsburg loben muss, erlauben Sie mir in diesem Zusammenhang einen kleinen Werbeblock für ein Angebot von „Brot für die Welt“: „Dein Jahr für die Welt“ haben wir es genannt. Junge Menschen zwischen 18 und 28 Jahren haben die Möglichkeit, ein freiwilliges Jahr bei einer unserer Partnerorganisation in Asien, Afrika oder Lateinamerika zu verbringen. Im Mittelpunkt stehen dabei das gemeinsame Arbeiten, das alltägliche Voneinanderlernen, das Verstehen entwicklungspolitischer Zusammenhänge und der kulturelle Austausch. Eine wunderbare Möglichkeit außerschulischen Lernens finde ich, das natürlich auch Studierenden und Auszubildenden offen steht!

Ich freue mich jedenfalls darüber, dass immer mehr Schulen und Hochschulen nach außen gehen und Kontakte und Kooperationen mit zivilgesellschaftlichen Organisationen suchen, um das Potential des informellen Lernens auch für die Bildungsinstitutionen fruchtbar zu machen.

5. Schluss

 


Ich komme zum Schluss. VENRO, der „Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nicht-Regierungsorganisationen“, zu dem auch BfdW gehört, hat im Jahr 2000 ein Positionspapier zum Globalen Lernen verabschiedet. Darin heißt es: „Globales Lernen zielt auf die Entfaltung der Persönlichkeit und der Kompetenzen des Menschen. Es möchte durch die Vermittlung von Wissen, Motivation und ethischer Orientierung und durch die Anregung entsprechender Lernprozesse Menschen dazu befähigen, an der Gestaltung der Weltgesellschaft aktiv und verantwortungsvoll mitzuwirken und in dem eigenen Lebensumfeld einen Beitrag zu einer zukunftsfähigen Weltentwicklung zu leisten.“

Wenn das Ziel von Bildung generell mit dem Erwerb von Gestaltungskompetenz umschrieben werden kann, dann zielt Globales Lernen auf die Bildung von Gestaltungskompetenz im Horizont der Einen Welt. Es ist gut, wenn sich Schulen und Hochschulen an diesem Ziel orientieren. Es ist gut, wenn Organisationen der Zivilgesellschaft das ihre dazu beitragen. Noch besser ist, wenn sie dies – wo immer möglich und sinnvoll – gemeinsam tun.