Suche
Suche Menü

Der Kampf gegen den Hunger

Artikel für Jahrbuch für die deutschen Gewerkschaften”, 50.Jg, 2007
von C. Füllkrug-Weitzel / Brot für die Welt

Der Kampf gegen den Hunger

Inhalt:
1. Tatsachen über Hunger und die Gesichter des Hungers
2. Faktoren, die Hunger verursachen oder verstärken
3. Falsche Prioritätensetzung bei der Landnutzung
4. Handel
5. Der Klimawandel verschärft die Ernährungsunsicherheit
6. Strategien

Die gute Nachricht zuerst: Hunger ist weder ein unvermeidliches Schicksal noch ist es das Ergebnis eines Mangels an natürlichen Ressourcen oder einer nicht ausreichenden Produktion. Global betrachtet reicht unsere heutige, weltweite Nahrungsmittelproduktion aus, die aktuelle Weltbevölkerung mit einer Basisernährung zu versorgen. Diese Tatsache ist in internationalen Kreisen ein anerkannter Fakt. Das immense Ausmaß des Hungers auf unserem Globus, aber vor allem seine ungleiche Verteilung, deuten darauf hin, dass Hunger neben anderen strukturelle Gründe hat, und dass damit außerdem die Fragen von Landrechten und Landnutzungsrechten verbunden sind, ebenso wie die Bedingungen der internationalen Wirtschaft und der politischen Rahmenbedingungen.
1. Tatsachen über Hunger und die Gesichter des Hungers
Die Zahl der Hungernden steigt noch an

 

Gemäß den jüngsten Schätzungen der FAO sind weltweit etwa 854 Millionen Menschen chronisch unterernährt, mehr als 800 Millionen davon leben in den armen Ländern des Südens. Vor 10 Jahren, anlässlich des Welternährungsgipfels 1996, haben die Staaten sich selbst darauf verpflichtet, den Hunger weltweit zu halbieren. Aber in den zehn Jahren, die seitdem vergangen sind, gab es keinen weltweiten Rückgang der Zahl der Hungernden. Im Gegenteil, die Zahl der Hungernden weltweit hat um 14 Millionen Menschen zugenommen – und dass, obwohl in Süd- und Südost-Asien erhebliche Fortschritte bei der Hungerbekämpfung zu verzeichnen sind, vor allem in China und Indien. Dies liegt nur zum Teil am Wachstum der Gesamtbevölkerungszahl. Die höchste Verbreitung von hungernden Menschen ist in Afrika südlich der Sahara zu verzeichnen. Hier schätzt die FAO, dass 32% der Gesamtbevölkerung unterernährt sind. Das Fehlen von Ernährungssicherheit ist ein weltweites Phänomen, aber es kann nicht angemessen bekämpft werden, ohne die am stärksten betroffenen und verletzlichen sozialen Gruppen in den Gemeinschaften, Regionen und Ländern sowie ihre Bedürfnisse klar identifiziert zu haben.

 

Das ländliche Gesicht des Hungers

 

Internationale Studien belegen, dass in den am stärksten betroffenen Ländern die Mehrzahl der unterernährten Menschen – nämlich vier von fünf – in ländlichen Gegenden lebt. Diejenigen, die Landwirtschaft betreiben und von ihr leben leiden am stärksten unter Hunger. Das ist erschütternd. Ländliche Entwicklung ist daher der Schlüssel im Kampf gegen Hunger und Armut in den armen Ländern des Südens.

 

22% der Menschen, die unter Hunger leiden, sind marginalisiert, weil sie nie Zugang zu Land hatten, oder weil sie ihr Land verlieren. Diese Landlosen verdienen ihr Brot oft als Farmarbeiter in großen Agrarbetrieben, und ihr Lohn reicht selten aus, um ihre Familien zu ernähren. Die landlosen Menschen sind weitestgehend vom eigenen Zugang zu Produktionsmitteln ausgeschlossen.

 

50% der Hungernden auf dem Land sind Kleinbauern, die zu wenig produzieren, um davon leben zu können. Sie machen etwa 40% der gesamten weltweiten Zahl der Hungernden aus! Die Mehrzahl dieser Kleinbauern ist aus verschiedenen Gründen benachteiligt. Ihr Land ist zu klein, und sie leben und arbeiten oftmals in sehr abgelegenen Regionen, abgeschnitten von jedweder Infrastruktur. Oder sie leben in bedrohten Küstenregionen. Die Bodenqualität ihres Landes ist schlecht, durch Erosion beeinträchtigt oder liegt an Steilhängen. Manchmal kommen all diese ungünstigen Faktoren zusammen. Darüber hinaus fehlen diesen Menschen häufig neben dem Kapital auch staatliche oder anderweitige Unterstützung und landwirtschaftliche Beratung. Die Kleinbauern werden von ihren Regierungen, dem Markt und der Gesellschaft vernachlässigt oder ignoriert. Sie sind daher extrem verletzlich für extern verursachte Krisen, wie z.B. Naturkatastrophen, HIV/Aids oder einen großen Preisdruck, der durch hochsubventionierte Importe entsteht.

 

Die Gründe für die Marginalisierung der Kleinbauern sind vielseitig: ungeklärte Landbesitzverhältnisse; fehlender Zugang zu Kleinkrediten und damit häufig auch zum teuren Saatgut und Produktionsgütern. Der fehlende Zugang zu Mikrokrediten ist vor allem in Haushalten ein Problem, denen Frauen vorstehen. Diese Tatsache ist ein klarer Hinweis darauf, dass der Zugang zu einer Basis-Infrastruktur auf dem Land und zu Ressourcen – hier insbesondere zu ausreichend Land und sicheren Landtiteln – eine grundlegende Voraussetzung dafür ist, 40% der Hungernden weltweit Teilhabe an der ländlichen Entwicklung zu ermöglichen. Dieser Zusammenhang wurde von UN- und anderen internationalen Organisationen anerkannt.

 

Von Frauen geführte Haushalte auf dem Land sind am meisten von Hunger bedroht. Obwohl die Frauen oft eine Schlüsselrolle in der kleinbäuerlichen Landwirtschaft spielen, wo bis zu 80% der Nahrungsmittelproduktion durch Frauen erledigt wird, haben sie aufgrund ihrer generellen Rechtlosigkeit oft keinen Zugang zu den Produktionsmitteln.

Und selbst in Haushalten, in denen es im Schnitt ausreichend Lebensmittel gibt, findet man regelmäßig schwere Formen der Unterernährung bei Müttern und Mädchen, die sich mit den Resten begnügen müssen, nachdem ihre Väter und Söhne gegessen haben.

 

So vielseitig wie die Gesichter des Hungers sind reicht es nicht aus, den Hunger mit weltweit gültigen Globalrezepten bekämpfen zu wollen. Es reicht auch nicht aus, dafür zu sorgen, dass die durchschnittliche Versorgung oder Verfügbarkeit von Nahrung für einen Haushalt sichergestellt wird. Jede nationale Strategie sollte gründlich die konkreten Notlagen in jeder Region und in jedem Haushalt analysieren.
2. Faktoren, die Hunger verursachen oder verstärken
Internationale Organisationen und die Global Donor Platform on Rural Development erkennen ungerechte Landverteilung als den „vermutlich gewichtigsten Faktor für die Unterschiede in den Armutsbekämpfungsstrategien der verschiedenen Länder“ an. Sie führen die sehr erfolgreiche Steigerung der landwirtschaftlichen Produktivität in den 90er Jahren in China, Indien und Taiwan (oft als ein Beispiel für den Erfolg der „grünen Revolution“ zitiert) auf gerechter werdende Landverteilung in diesen Ländern zurück. In der Tat war die Produktionssteigerung im Agrarbereich in diesen Ländern ein Erfolg umfangreicher und umverteilender Landreformen.

 

Unsichere Besitzansprüche, v.a. das Fehlen von sicheren und übertragbaren Besitzrechten und eines rechtlichen Schutzes ihrer berechtigten Interessen gefährdet die Existenz von Kleinbauern, Nomaden und der indigenen Bevölkerung. Dieser Sachverhalt bewahrheitet sich vor allem im gegenwärtigen Jahrzehnt, denn der Druck auf die Ressource Land wächst ständig: Die Förderung von Bodenschätzen, der internationale und staatliche Fokus auf Großbetriebe und die Unterstützung von großflächiger Getreideproduktion – eigentlich zur Produktivitätssteigerung und zur Beendigung des Hungers gedacht – führt für diese Marginalisierten häufig zu Landverlust und zum Anstieg von Hunger in den betroffenen Gemeinschaften.

 

Eine erfolgreiche Strategie zur Hungerbekämpfung und die Förderung der Produktivität von Kleinbauern und Landlosen ist mithin keine Angelegenheit für die Agro-Chemische Industrie, sondern bedarf gerechter Landverteilung, des Zugangs zu anderen Produktionsgütern auf dem Land und der Möglichkeit, von staatlichen Bemühungen zur ländlichen Entwicklung zu profitieren.

 

Ländliche Randgruppen, die am stärksten unter Hunger leiden, wurden durch die politische Ausrichtung der landwirtschaftlichen Strategien jedoch noch weiter benachteiligt. Die Hintergrundstudie der Hunger Task Force des UNDP Millenniumprojekts (von 2003) hat sehr deutlich die Verbindung zwischen der totalen Vernachlässigung der speziellen Bedürfnisse der Mehrheit der ländlichen Bevölkerung und dem Muster der vorherrschenden globalen Landwirtschaftsstrategie der letzten Jahrzehnte herausgearbeitet. Diese setzte und setzt auf nationaler und internationaler Ebene den Schwerpunkt auf Exportförderung und auf moderne Technologien zur Ertragssteigerung der landwirtschaftlichen Produktion. Dies setzt Großflächenanbau und sehr viele Ressourcen voraus. Darum kann ein Großteil der unterernährten Kleinbauern nicht von dieser Landwirtschaftsstrategie profitieren. Neue Technologien, spezielle Getreidearten, die von Düngern und Pestiziden abhängig sind, sind für Kleinbauern nicht erschwinglich und führen in vielen Fällen zu ihrer Verschuldung und damit letztendlich zum Verlust ihres Landes. Für diese Gruppe müsste Ertragssteigerung auf der Nutzung von verfügbaren Ressourcen, die Verbesserung der Infrastruktur und den Ausbau der nachhaltigen Landwirtschaft beruhen.

 

Die Erhöhung der landwirtschaftlichen Produktion durch die Aktivitäten und Dynamiken der Agrarindustrie führt nicht automatisch zur Reduzierung von Hunger. Die Gewinne der Agrarindustrie konzentrieren sich oftmals in den Händen einiger weniger Akteure. Die Prozesse, die in diesem Sektor zu Wachstum führen, können den Hunger aufgrund ungleicher Wettbewerbssituationen auf den Märkten sogar verstärken, ebenso die Tendenz zur Förderung von Landkonzentration.
3. Falsche Prioritätensetzung bei der Landnutzung
Die Nachfrage nach Land steigt stetig. Bereits heute wird ein großer Teil der produzierten Kalorien für Tierfutter oder Treibstoffe genutzt. Es steht zu erwarten, dass diese Art der Bodennutzung weiterhin zunehmen wird: Die Rohstoffmärkte treten zunehmend in Konkurrenz mit den Nahrungsmärkten, was möglicherweise dramatische Auswirkungen nach sich ziehen wird. Um sich von den ölexportierenden Ländern zu emanzipieren und so dem Diktat der Ölpreise zu entgehen, setzen Industrienationen ihre Hoffnungen auf die Produktion von Agrar-Kraftstoffen. Riesige landwirtschaftliche Flächen in den USA und in der EU stehen kurz davor, für die Produktion von Ethanol umgewidmet zu werden. Die Preise für Getreide, Mais und Zuckerrohr steigen bereits aufgrund der Nachfrage im Rohstoffsektor – zum Schaden der Armen. Und zum Schaden internationaler humanitärer Hilfswerke, die Menschen in Katastrophengebieten ernähren und daher auf niedrige Lebensmittelpreise angewiesen sind, weil sie von den Geberländern mit finanziellen Mitteln chronisch unterausgestattet werden.

 

In den nächsten zwei Jahren werden wir einem weltweiten Nahrungsmittelmangel von geschätzten zehn Millionen Tonnen Getreide gegenüber stehen. Darüber hinaus wird die gegenwärtig noch landwirtschaftlich genutzte Bodenfläche zunehmend zur Bebauung, für Infrastrukturprojekte und für die Erschließung von Industriegebieten umgewandelt, siehe Indien und China. In der Folge gehen die Flächen für die Nahrungsmittelproduktion konstant zurück, während die Zahl der zu ernährenden Menschen stetig zunimmt. Die Ernährung der Weltbevölkerung ist also auch ein Problem der politischen Prioritätensetzung bei der Landnutzung.

 

4. Handel

 

Der Vormarsch der industriellen Exportlandwirtschaft in den letzten Jahrzehnten wurde begleitet vom Druck der internationalen Finanzorganisationen, strukturelle Anpassungen vorzunehmen, und von der Welthandelsorganisation (WTO), den Agrarhandel zu liberalisieren. Verschuldete Länder werden gepresst, ihre Märkte zu öffnen, indem sie Zollschranken für Agrarimporte fallen lassen und Unterstützungsmaßnahmen für ihre nationalen Agrarmärkte abzuschaffen, die dazu dienen sollten, Hunger zu bekämpfen und nachhaltige ländliche Entwicklung zu fördern. Gleichzeitig förderten die EU und die USA ihrerseits weiterhin landwirtschaftliche Überschussproduktion und fördern den weltweiten Handel mit diesen Überschussprodukten mit weiteren Subventionen.

So lagen und liegen die Preise für Lebensmittel aus dem Norden nicht nur weit unter den Produktionskosten, sondern auch unter denen für die lokalen Produkte der Kleinbauern im Süden. Die Öffnung der südlichen Agrarmärkte für Nahrungsmittelimporte hat verheerende Auswirkungen auf die Lebens- und Ernährungsbedingungen vieler Kleinbauern in armen Ländern und führt dazu, dass ihre Lebenssituation immer bedenklicher wird. Tausende von lokalen Hühnerzüchtern mussten ihre Betriebe bereits aufgeben, weil die massiv subventionierten Hühnerexporte aus Westeuropa die lokalen Märkte überschwemmen. Das gleiche geschieht zur Zeit in ganz Afrika mit Tomaten, Milch, Getreide und anderen landwirtschaftlichen Produkten. Als Folge dieser subventionierten Exporte aus Westeuropa verwandeln sich Länder südlich der Sahara, die vormals selber Nahrungsmittel exportierten, zu Nettoimporteuren von landwirtschaftlichen Produkten. Hungerbekämpfung hieße hier: die protektionistischen Verhältnisse umkehren: Schutz der schwachen Agrarmärkte im Süden und Abbau von Exportsubventionen für Agrarprodukte aus dem Norden. Vom globalisierten Handel mit landwirtschaftlichen Produkten profitieren zur Zeit vor allem einige große Nahrungsmittelexporteure und multinationale Handelskonzerne, während die Familienbetriebe und Kleinbauern im Süden und im Norden dagegen immer ärmer werden und zurück bleiben.

 

Fazit: Es sollte deutlich geworden sein, dass es wichtige strukturelle Ursachen für Hunger gibt: unsichere Landbesitzverhältnisse oder der fehlende Zugang zu Boden und anderen ländlichen Produktionsressourcen wie Wasser; die zögerliche Haltung gegenüber grundlegenden Landreformen; geschlechtsspezifischen Diskriminierung; mangelnde staatliche und globale Akzeptanz von Fonds für die ländlichen Gegenden und Kleinbauern und die fehlende Bereitschaft, existierende Fonds finanziell auszustatten; eine falsche Prioritätensetzung für die Bodennutzung; ungerechte Handelsbedingungen. Diese strukturellen Faktoren führen zur weiteren Marginalisierung der armen Bevölkerung auf dem Land. Andere – zeitlich und räumlich begrenztere – Faktoren können dazu kommen und den Hunger zeitweise vergrößern. Die wichtigsten unter diesen Faktoren sind HIV/Aids, Krieg und bewaffnete Konflikte. Ein weiterer neuer Faktor ist hinzugetreten:

 

5. Der Klimawandel verschärft die Ernährungsunsicherheit

 

Der Klimawandel hat bereits heute Auswirkungen auf die Ernährungssicherheit, und die Auswirkungen werden sich künftig noch verschärfen: Höhere Temperaturen und veränderte Niederschlagsmuster ziehen die Getreideproduktion in Mitleidenschaft. Dies trifft vor allem die Kleinbauern, die auf Regenwasser für ihre Landwirtschaft angewiesen sind. Die Verfügbarkeit von Wasser für die Nahrungsmittelproduktion sinkt generell. Der Anstieg des Meeresspiegels, Wind- und Wassererosion und führen zum Verlust von Ackerbauflächen und tropische Stürme führen zu Überschwemmungen. Sie zerstören die Ernten und Aussaaten, sie machen den Boden und die Felder unbrauchbar und zerstören die Existenzgrundlage vieler Menschen. Dürren lassen die Verfügbarkeit von Wasser zurück gehen und sorgen für zu geringe Ernten oder für totale Ernteausfälle, münden daher oft in Hungersnöten.

 

Es sind dringend Anpassungsstrategien nötig, und in einem gewissen Maß sind sie auch möglich. Für manche Randgruppen jedoch sind Anpassungsmaßnahmen schwierig oder nicht leistbar, bedingt durch ihre geographische Situation, wenn Land beispielsweise an Steilhängen liegt oder in Gegenden, die regelmäßig von Überflutungen betroffen sind. Und die globale Erwärmung wird noch extremere Wetterlagen zur Folge haben, die immer massivere Schäden verursachen und immer mehr Menschen betreffen werden. Die Ernährungssicherung ist massiv bedroht.

 

Wissenschaftliche Studien prognostizieren, dass eine weitere Erwärmung über 2°C hinaus zu einem schnell ansteigenden Hungerrisiko für weiterer 44 – 55 Million Menschen führen wird. Afrika ist in diesem Szenario der größte Verlierer: 29 Länder werden nach dieser Studie unter Produktionsverlusten leiden.

 

6. Strategien

 

6.1 Politikwechsel

 

a) Fokus auf Landwirtschaft

 

Strategien, die auf dauerhafte Ernährungssicherung zielen, können nicht auf kurzfristigem, interventionistischen Handeln aufgebaut werden. Kurzfristige Nahrungsmittellieferungen können in akuten Krisen vorübergehend notwendig sein, doch viel weitergehende Maßnahmen werden benötigt, um Hunger zu bekämpfen.

 

Dazu braucht es Strategien und Programme, die sich mit den zugrundeliegenden komplexen Ursachen für die Hungeranfälligkeit spezifischer Bevölkerungsgruppen auseinandersetzen und auf die volle Einbeziehung und Chancengleichheit von marginalisierten Gruppen in ländlichen Gegenden hinarbeiten – immerhin 60% der Hungernden weltweit.

 

Das „Empowerment“, der Respekt vor der Würde und die Stärkung und Implementierung der Menschenrechte, insbesondere der verletzlichsten Gruppen, müssen dabei im Mittelpunkt stehen.

 

Landwirtschaft ist ein strategischer Sektor, um Entwicklung zu initiieren. Sie muss darum wieder viel mehr Gewicht in den nationalen und internationalen Förderprogrammen bekommen. Dabei braucht es aber einen Strategiewechsel und eine Strategie, die das Augenmerk auf die Verbesserung der Ernährungssicherheit von kleinbäuerlichen Produzenten legt.

 

b) Landrechte

 

Gleichberechtigter Zugang zu Land und sichere Landrechte sind essentielle Voraussetzungen, Kleinbauern die Teilhabe an der landwirtschaftlichen Entwicklung zu ermöglichen. Vor allem müssen die Landrechte der extrem Marginalisierten, wie der indigenen Völker, nicht nur anerkannt werden, (wie z.B. in der neuen Verfassung Brasiliens), sondern auch durch die Regierungen aktiv gefördert und geschützt werden. Frauen müssen das Recht erhalten, Land zu erben und zu besitzen, und die Gesetzgebung muss Frauen die Möglichkeit geben, zu allen anderen Produktionsressourcen (wie Wasser, Kredite oder angemessene Technologien) gleichberechtigten Zugang zu haben und von ihnen zu profitieren. Die arme Landbevölkerung muss ganz allgemein wirtschaftlich und politisch stark gemacht werden, aber Frauen brauchen darüber hinaus spezielles „empowerment“, um ihre Rechte in Anspruch nehmen zu können und uneingeschränkt an der landwirtschaftlichen Produktion und ihren Früchten teil zu haben.

 

c) Strukturelle Veränderungen

 

Begleitend sind strukturelle Veränderungen für die Hungerbekämpfung notwendig. Hier sind insbesondere zu nennen: die Förderung von Reformen zur Landumverteilung, gerechte Welthandelsbedingungen, die Überwachung und Kontrolle negativer Auswirkungen der Welthandelspolitik auf die Agrarmärkte des Südens und Einflussnahme auf das Erstarken der Agroindustrie.

 

6.2 Nachhaltige Landwirtschaft

 

Der Einsatz von Düngern, Pestiziden in der Landwirtschaft und von genmanipuliertem Saatgut, das nicht neu aussaatfähig ist, kurz: industrialisierte Landwirtschaft, ist sehr kostenträchtig – und das Jahr für Jahr. Kleinbauern können sich dies nicht leisten. Millionen haben deshalb Land verloren. Aus diesem Grund sollten die Fähigkeiten und das Wissen der Kleinbauern um Methoden der nachhaltige Landwirtschaft mit heimischem Saatgut und traditionellen Anbaumethoden weiterentwickelt werden, basierend auf lokalen und regionalen Erfahrungen, den zur Verfügung stehenden Ressourcen und den lokalen Umweltbedingungen. Dies ist nicht nur wichtig, um die landwirtschaftliche Produktion gegenüber Dürren, Überschwemmungen etc. resistenter zu machen, sondern auch für den Umweltschutz. Obendrein steigert eine weiterentwickelte nachhaltige Landwirtschaft – entgegen der massiven Propaganda der Agrarindustrie –die landwirtschaftliche Produktivität in hohem Maße und könnte zur Ernährungssicherheit vieler Menschen beitragen.

 

Eine Umfrage der British University of Essex belegt, dass der weltweite Hunger mit Methoden der nachhaltigen Landwirtschaft besiegt werden könnte – ohne Gentechnik, ohne zweite „grüne Revolution“. Die Studie bezog neun Millionen Bauern ein, verteilt auf eine Region von fast 300.000 Quadratmetern. Im Durchschnitt erbrachten die Felder nach dem Einsatz verbesserter, umweltgerechter Methoden 50 bis 100% höhere Ernteerträge. Damit kann nicht mehr bestritten werden, dass nachhaltige Landwirtschaft derzeit einen Weg aus der Hungerkrise darstellen könnte.

 

6.3 Recht auf Nahrung

 

Entscheidend für die Hungerbekämpfung ist politischer Wille. Wie aber kann man Regierungen und die internationale Gemeinschaft dazu bewegen, sich für den Kampf gegen den Hunger zu verpflichten? Es wurden schon viele wohlklingende Selbstverpflichtungen der internationalen Gemeinschaft und einzelner Regierungen ausgesprochen, aber nichts geschah – oder das Falsche. Aus unserer Sicht die Anerkennung des Rechts auf Nahrung ein großer Schritt im Kampf gegen den Hunger.

 

Dem Hunger ein Ende zu setzen, ist kein Akt der Wohltätigkeit! Auch kann es nicht dem „good will“ von Politikern oder Unternehmen überlassen werden, gegen den Hunger anzugehen. Die universelle Erklärung der Menschenrechte von 1948 erkannte das Recht auf Nahrung an, und seit dem haben eine ganze Reihe von verbindlichen und unverbindlichen rechtlichen Instrumenten dies festgeschrieben.

 

Allerdings gab es bis November 2004 keine praktische Anleitung, wie dieses Recht zu implementieren ist. Nach einer zweijährigen Verhandlungsphase unter dem Dach der FAO (Food and Agriculture Organisation of the United Nations) wurden damals die „Freiwilligen Leitlinien für die schrittweise Umsetzung des Rechts auf angemessene Nahrung im Zusammenhang mit der nationalen Ernährungssicherung“ einheitlich durch alle 187 FAO-Mitgliedsstaaten verabschiedet. Dies war ein entscheidender Schritt nach vorne. Übrigens nicht zuletzt ein Erfolg der starken zivilgesellschaftlichen Lobbyarbeit, darunter auch kirchlicher Organisationen wie „Brot für die Welt“.

 

Die Leitlinien wollen sehr praktische und konkrete Hinweise für Staaten bereitstellen, wie das Recht auf angemessene Nahrung im Zusammenhang mit der nationalen Ernährungssicherung schrittweise umzusetzen ist. Sie beschreiben, welche Anforderungen an die Regierungsstrategien auf nationaler Ebene erfüllt zu erfüllen sind – nicht nur mit Blick auf die Landwirtschaftspolitik, sondern auch mit Blick auf die allgemeinen rechtlichen, sozialen und wirtschaftlichen Voraussetzungen, die geschaffen werden müssen. Die nationalen Strategien müssen sehr konkreten Bezug auf die jeweiligen sehr speziellen Bedingungen und Bedürfnissen jeder Region und Gemeinschaft nehmen. Die jeweiligen Zielgruppen müssen daher unbedingt in den Planungs- und Überwachungsprozess einbezogen werden. Sowohl ihre Befähigung (empowerment) und Teilhabe als auch die Stärkung der Zivilgesellschaft auf lokaler und nationaler Ebene generell nehmen eine Schlüsselposition ein.

 

Das Ziel der Leitlinien ist, eine Umgebung zu schaffen, die Menschen befähigt, sich in Würde zu ernähren, und außerdem Sicherheitsnetze für diejenigen zu spannen, die dazu nicht in der Lage sind. Das Recht auf Nahrung meint nicht ein Recht darauf, ernährt zu werden! Die Freiwilligen Leitlinien betonen vielmehr das individuelle Recht auf ein förderliches Umfeld, das den Einzelnen befähigt, sich selbst und seine Familie zu versorgen, also mit Nahrung aus eigener Herstellung oder gekauft auf Märkten. Spezielle Unterstützung von einzelnen Haushalten mit Nahrungsmitteln ist nur für diejenigen vorgesehen, die keine Möglichkeit haben, ihr Lebensminimum zu sichern, wie beispielsweise Katastrophenopfer, von HIV/Aids besonders betroffene Familien und Behinderte etc.

 

Regierungen werden ermutigt, ein Maximum ihrer verfügbaren Ressourcen für die Um­setzung des Rechts auf Nahrung zu investieren. Doch ist der Kostenfaktor nicht der entscheidende Faktor. Die Leitlinien empfehlen nämlich, das Geld ganz gezielt in die hungeranfälligsten Sektoren der Gesellschaft zu investieren. Diese Zielgruppen müssen in einem nationalen Umsetzungsplan definiert werden. Die meisten der empfohlenen Schritte erfordern keinen finanziellen Einsatz und könnten dennoch sehr effektiv sein: Dazu gehören die Gesetzesverbesserungen; die Unterlassung von Maßnahmen, die die Menschenrechte verletzten würden; eine stärkere und kohärentere Berücksichtigung der Rechte der Menschen als den Mittelpunkt der Entwicklungsbemühungen.

 

Dies gilt nicht nur für die nationale, sondern auch für die internationale Ebene: Die Freiwilligen Leitlinien betonen, dass der Kampf gegen den Hunger auch verbesserte internationale Handelsregularien erfordert, um erfolgreich sein zu können. Zudem sollten sich die verschiedenen Entwicklungsstrategien und Initiativen zum Schuldenerlass am Ziel der Ernährungssicherung ausrichten. Der ausländische Schuldendienst sollte mit Vereinbarungen zu den Welthandelsabkommen verbunden werden. Die Außenwirtschaftspolitik aber auch die Landwirtschaftspolitik des Nordens so wie die Energie, Umwelt- und Landnutzungspolitik etc. sollten kohärent mit dem Menschenrecht auf Nahrung sein. Diese Kohärenz würde beispielsweise subventionierte Überflussproduktion für den Export oder das Dumping von Nahrungsmittelhilfe, da wo lokal oder regional genug Nahrung produziert wird, nicht zulassen.

 

Die Freiwilligen Leitlinien gehen vom Rechtsanspruch des Einzelnen und von einer rechtlichen Verpflichtung des Staates zur Fürsorge gegenüber seinen Bürgern aus. Dieser Ansatz ermöglicht es Menschen, von ihren eigenen Regierungen die Umsetzung der anerkannten Ziele einzufordern und sie dafür verantwortlich zu halten. Nach Jahren des Redens über „good Governance“ stellt dieser Rechte-basierte Ansatz der Zivilgesellschaft endlich ein Schüsselinstrument zur Verfügung, mit dem Regierungen für das, was sie im Blick auf das Ziel, dass alle Menschen über ausreichend Nahrung in angemessener Qualität verfügen und ihr Leben in Würde führen können, tun oder unterlassen. Die Regierungen und die Völkergemeinschaft sind aufgefordert, die Hungernden und Armen in den Prozess der menschlichen Entwicklung einzubeziehen, anstatt sie weiterhin als passive Empfänger von Wohltaten zu behandeln.