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Humanitäre Hilfe und Entwicklungsarbeit

Symposium des Bündnisses “Entwicklung Hilft”

Qualität in HUMANITÄRER HILFE und ENTWICKLUNGSZUSAMMENARBEIT
LRRD – Linking Relief, Rehabilitation and Development Input und weiterführende Fragen

Zu den Qualitätskriterien humanitärer Hilfe hat VENRO schon Wesentliches gesagt und ich setze hiermit die Prinzipien des Code of Conduct, der SPHERE-Standards sowie weiterer international erarbeiteter Standards für die Humanitäre Hilfe als Basiskriterien für Qualität etc. voraus und möchte dem heute nur Bemerkungen darüber hinzufügen,

  • wie Erkenntnisse, Erfahrungen und Kompetenzen aus der Entwicklungspolitik dazu beitragen können und müssen, die Hilfe in humanitären Krisen zu qualifizieren und welchen Beitrag EZ zur Bewältigung humanitärer Krisen leisten kann und muss
  • wie das Zusammenspiel von HH und EZ gestaltet sein könnte, um optimalere Wirkung zum Wohle betroffener oder benachteiligter Menschen zu erzielen, deren eigene Kräfte nicht ausreichen, ihre gefährdeten Lebensbedingungen so zu gestalten, dass ein Leben in Würde möglich ist.

1. Nebeneinander, Übergang oder Miteinander? Die Entwicklung der LRRD-Diskussion

Die Diskussion über den Zusammenhang von Nothilfe, Wiederaufbau und Entwicklung – LRRD – kam anlässlich der großen Hungerkrise in Afrika Mitte der 80er Jahre auf: Angesichts des Ausmaßes der Not traten einerseits die Grenzen von Nothilfe in das Bewusstsein. Andererseits waren kritische Fragen an die Entwicklungshilfe zu stellen, die diese dramatische Entwicklung über Jahre nicht adäquat vorhergesehen und nicht verhindert hatte. Die Diskussion wurde zu Beginn der 90er Jahre zunächst mit dem Tenor diskutiert:

Entwicklung kann die Notwendigkeit für oder mindestens das Ausmaß von Nothilfe reduzieren, Nothilfe kann Entwicklung und Wiederaufbauhilfe den Übergang zwischen Nothilfe und Entwicklung befördern – vorausgesetzt humanitäre Hilfe hat die Nachhaltigkeit ihrer Maßnahmen und die Entwicklungsnotwendigkeiten des jeweils betroffenen Landes im Blick und Entwicklungshilfe vernachlässigt über den großen Fragen sozialer und/oder politischer Transformation nicht die ideologisch weniger interessante Problematik natürlicher Klimaschwankungen. Fließende Übergänge und gegenseitige Ernstnahme schienen die Antwort: vom Nebeneinander zum organisierten Nacheinander.

Die nachfolgenden komplexen und langandauernden sog. ‚men-made’-Krisen in Ruanda, Balkan oder am Horn von Afrika in den 90ern gaben der Diskussion eine neue Dimension: Vor dem Hintergrund komplexer und z.T. chronischer humanitärer Notlagen mit politischem Hintergrund war die Rede/Theorie vom fließenden zeitlichen Übergang beider Hilfeformen wenig hilfreich:

Zum einen, weil in dieser Art humanitärer Krisen verschiedene Bedarfe gleichzeitig vorliegen können und möglich sind, so dass ggf. die verschiedenen Formen von Hilfe nicht als aufeinanderfolgende Phasen, sondern gleichzeitig geleistet werden müssen: statt Nacheinander ein Miteinander.

Zum anderen, weil eine durch politische Instabilität und Konflikt hervorgerufene humanitäre Notlage selten eine zeitlich befristete und rasch reparable Unterbrechung eines normal verlaufenden Entwicklungsprozesses ist, sondern eher Symptom eines falsch verlaufenden Entwicklungsprozesses.

An humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe wurde im Übrigen die Frage gestellt, wie sie im Land zu Konfliktprävention, Deeskalation und Versöhnung beitragen könne. Dabei stellten sich der humanitären Hilfe auch mit neuem Nachdruck die Fragen des Code of Conduct nach Unabhängigkeit und Neutralität, die von der Entwicklungshilfe indes bisweilen aus guten Gründen der Parteinahme für Schwache und den Menschenrechtsschutz abgewiesen werden müssen. Inwieweit darum in gewaltsamen Konfliktgebieten Kontinuität oder das (institutionelle) Miteinander von Entwicklungs- zur humanitären Hilfe möglich ist und wie sie die Akzeptanz der humanitären Hilfe beeinflusst, ist seitdem eine durchaus offene Frage.

Die Frage nach der Unabhängigkeit und friedensfördernder Qualität humanitärer Hilfe erhielt im Übrigen eine neue Dringlichkeit, aber auch Qualität durch die Instrumentalisierungsversuche humanitärer Hilfe durch ausländische Regierungen im Zuge der sog. Terrorismusbekämpfung (Afghanistan, Irak etc.).

Die Weiterentwicklung von Konzepten bezüglich des Verhältnisses von HH und EZ kam so lange nicht voran, wie für Naturkatastrophen und komplexe, z.T. chronische politische Katastrophen eine gemeinsam gültige – und damit unpolitische – Antwort gesucht wurde. Erst mit einer getrennten Betrachtungsweise gelang die Einsicht, dass HH und EZ auf eine Analyse der multiplen strukturellen Ursachen komplexer politischer Katastrophen angewiesen sind, um angemessene (konflikt-bezogene) Hilfestrategien definieren zu können (und dabei auch die Art des Ineinandergreifens und der Trennung beider Hilfsformen).

Währenddessen erhielt auch die Diskussion um die adäquate Reaktion und Hilfeform bei Naturkatastrophen durch verschiedene Großkatastrophen um die Jahrtausendwende (El Nino, Hurrikans Zentral Amerika, Erdbeben Gujarat, Türkei, etc.) neue Nahrung in Richtung: wie kann durch Entwicklung (und die nachhaltige Hilfe dazu) die Verwundbarkeit von Menschen gegenüber Klimaschwankungen und –phänomen verringert werden? Dabei musste auch in diesem Kontext erkannt werden, dass das Ausmaß von Naturkatastrophen strukturelle ökonomische und politische Ursachen hat, die bei der Hilfe zu beachten sind. Dennoch blieb der Umgang mit dieser Erkenntnis für Nothilfeorganisationen und für Entwicklungsorganisationen unterschiedlich.

Fragen für die Diskussion:

Werden humanitäre Hilfe und Entwicklungshilfe von unterschiedlichen Analysen der Ursachen von Not und des Bedarfs an Hilfe und von unterschiedlichen Zielstellungen geleitet?

Gälte es gegebenenfalls, eine gemeinsame Vision für das Handeln in beiden Feldern zu beschreiben, die sicher stellt, dass die Zielstellungen nicht aus-, oder schlimmstenfalls gegeneinander laufen und wie wäre sie zu beschreiben?

2. Ursachen und Ausmaß von ‚Verletzlichkeit’ – eine Herausforderung an das Analysepotential

2.1. Von großer Bedeutung für die LRRD Diskussion war die Anerkennung der Tatsache, dass das Ausmaß der Zerstörung von Naturkatastrophen nichts ‚Natürliches’ hat, sondern durch vorfindliche strukturelle soziale, ökonomische und politische Faktoren bedingt wird, d.h. durch jene Faktoren, an denen langfristige Entwicklungshilfe arbeiten will und darum auch im Kontext, oder sollte man sagen: als indirekter Bestandteil? humanitärer Hilfe – und zwar präventiv wie nachsorgend – arbeiten muss:

Auch der Tsunami hat gezeigt, wie in Armut und Ausgrenzung lebende Menschen sehr viel existentieller und massiver von einem Naturereignis betroffen wurden, als besser gestellte und einflussreiche Bevölkerungsgruppen: die Lage von Wohn- und Lebensorten, die Bausubstanz ihrer Häuser, ihr alltäglicher Zugang zu Informationen und zu Ressourcen (Wasser, Nahrung, Kredite etc.), das Maß politischer Aufmerksamkeit und die Chancen auf politisches Gehör etc., bestimmten das Ausmaß ihrer Anfälligkeit und ihre Chancen auf Prävention und Schutz, auf Selbsthilfe und auf Zugang zu Hilfeleistungen durch andere. Neben den ökonomischen Unterschieden spielen strukturelle Unterschiede und Konflikte zwischen den Geschlechtern und Ethnien / Kasten etc., d.h. diskriminierende soziale Strukturen eine wichtige Rolle beim Ausmaß des Leidens unter den Folgen einer Naturkatastrophe und den Chancen auf bedarfs-angemessene Unterstützung in der akuten Not und Rehabilitation.

(Als Beispiel aus der Praxis schauen wir auf die Region Aceh in Indonesien, die aufgrund des verhängten militärischen Ausnahmezustandes, der eingeschränkten Zugänglichkeit und der damit einhergehenden langjährigen Vernachlässigung durch die Zentralregierung derart verletzlich und unfähig zur Selbsthilfe war, dass die Region die größten Schäden und die meisten Todesopfer verzeichnen musste. Ähnliches gilt für Sri Lanka als Bürgerkriegsregion mit verfeindeten Landesteilen.)

Naturkatastrophen machen aus sozial stark unterschiedlichen und auf Diskriminierung verschiedener Art aufbauenden oder zerrissener Gesellschaften nicht ein Volk (oder eine Welt), das gemeinsam leidet und in der Not zusammen steht. Sie haben im Gegenteil das Potential, bestehende Gegensätze, Diskriminierungen und Konflikte zu vertiefen. Dies gilt entsprechend für eine Hilfe, die blind dafür ist: In vielen Fällen wurde schmerzlich erfahren, dass gutgemeinte Hilfe ohne Beachtung dieser strukturellen Faktoren die bekämpfte Ungleichheit und Ungerechtigkeit genau wieder reproduziert (aktuelles Beispiel: Ausgrenzung von Dalits von staatlichen und internationalen Hilfeleistungen in Küstenorten Indiens). Für den Fall politisch bedingter humanitärer Krisen in Gewaltkonflikten war ähnliches schon früher erkannt und mit dem ‚Do no harm’-Konzept versucht worden, ansatzweise zu beantworten (s.o.).

Daraus folgt dreierlei:

a) Die Anerkenntnis und entsprechend: die Analyse unterschiedlicher Verletzlichkeit verschiedener Bevölkerungsteile ist mithin unerlässlich auch für gute humanitäre Hilfe: Sie legt den Finger auf Diskriminierung, Vernachlässigung und Marginalisierung, Menschenrechtsverletzungen und Ungerechtigkeit, die Menschen im Katastrophenfall doppelt schwer für dessen negative Auswirkungen anfällig machen.

b) Die erforderliche ökonomische, gesellschaftliche und wirtschaftliche Machtanalyse fällt selbst noch vielen Entwicklungshilfsorganisationen schwer, die über Jahre und Jahrzehnte in einem Land arbeiten, weil eine solche Analyse sehr viel historisches Wissen, kulturelles Verständnis und intime Kenntnisse der Sozialstruktur – in den selbst innerhalb eines Landes noch einmal verschiedenen Regionen – eines Landes erfordert. Erst recht aber kann solche Kenntnis ganz und gar nicht bei Organisationen vorausgesetzt und von ausländischen humanitären Hilfsorganisationen erwartet werden, die im akuten Fall einer humanitären Hilfe eventuell erstmalig und in jedem Fall kurzfristig in ein Land kommen. Wenn sie keine eigene langfristige Präsenz im Lande oder – was deutlich idealer ist – langfristige Zusammenarbeit mit/Unterstützung von genuinen und erfahrenen lokalen Partnerorganisationen haben, dürfte ihnen eine unabhängige und zutreffende Sozial- und Machtanalyse sehr schwer fallen und die Risiken, bestehende Konflikte zu verschärfen oder Diskriminierungen zu vertiefen, sind für Organisationen, die im Krisenfall nur ad hocistisch von außen intervenieren erheblich.

c) Wenn Entwicklungshilfsorganisationen zur Überwindung von Armut, Ausgrenzung, Diskriminierung, Rechtlosigkeit einen langfristigen Beitrag leisten wollen, so tragen sie damit zur Reduzierung der Verletzlichkeit aller Bevölkerungsgruppen bei und leisten damit einen eminent wichtigen Beitrag im Rahmen von ‚Katastrophenprävention’. Im akuten Stadium können sie mit ihrem Partnerspektrum Anwalt besonders schwacher Bevölkerungsgruppen gegen diskriminierende Hilfsmaßnahmen und Wiederaufbaupläne sein.

2.2. Analog ließe sich darüber hinaus sagen: Es gibt eine Korrelation zwischen ‚Verletzlichkeit’ der Umwelt und dem Schadensausmaß von Katastrophen.

Umwelt- und Entwicklungsorganisationen wissen um die negativen Auswirkungen von Umweltschäden auf langfristige Entwicklungsprozesse und die Risiken negativer Auswirkungen falscher Entwicklungsprogramme auf den nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen. Die Erstellung von Umweltbilanzen ist darum nicht selten Bestandteil von Maßnahmenplanungen und Entwicklungsprogramme müssen auch zum langfristigen Ressourcenschutz beitragen.

Humanitäre Krisen sind bisweilen selbst Ergebnis Umwelt schädigenden Verhaltens der lokalen oder der Welt-Bevölkerung und sie ereignen sich besonders häufig in ohnehin fragilen Ökosystemen und verschlechtern die Umweltsituation in den betroffenen Gebieten in der Regel dramatisch – sei es durch Erosion, Versalzung von Böden, Vergiftung von Gewässern und Böden etc.. (siehe u.a. aktuell die Anschwemmung von Giftfässern durch den Tsunami in Somalia).

Zu den wirkungsvollen Maßnahmen der Katastrophenprävention gehören darum auch Maßnahmen der Klimaprävention weltweit, wie des nachhaltigen Umgangs mit natürlichen Ressourcen (Böden, Wasser, Wald etc.) im Lebensalltag, der Landwirtschaft und der industriellen Produktion in den gefährdeten Ländern/Regionen.

Humanitäre Hilfsmaßnahmen mit ihrem zentralen Fokus auf der Überlebenssicherung und der schnellen Rehabilitation der Leben Einzelner bergen in noch höherem Maß als Entwicklungshilfe das Risiko in sich, Umweltzerstörung zu befördern (siehe aktuelles Tsunamibeispiel: übermäßiger Holzeinschlag etc. für Baumassnahmen in Sri Lanka). Sie bedürfen darum einer besonders aufmerksamen Umwelt-Risikoabschätzung, und Komponenten der Rehabilitation der Umwelt.

Auch hierfür können (lokale und internationale) Partner der Entwicklungszusammenarbeit gute Anwälte und Ratgeber sein.

Fragen für die Diskussion:

Kann sich humanitäre Hilfe – anders als Entwicklungshilfe – leisten , oder muss sie es sich sogar leisten, ohne Analyse der vorfindlichen Sozial- und Machtstrukturen und der Umweltsituation zu intervenieren, wenn der humanitäre Imperativ in einer extremen Notsituation schnellstes Handeln erfordert? Darf der humanitäre Imperativ dazu führen, dass mittel- und langfristige negative Wirkungen eines Projektes auf die Machtverhältnisse zu Ungunsten der Schwächsten und zu Ungunsten der Umwelt für kurzfristige Überlebenssicherung in Kauf genommen werden?

Wer kann im akuten Katastrophenfall nach den Ursachen von Verletzlichkeit von Menschen und Natur fragen und zutreffende Sozial- und Umweltanalysen anstellen?

Wie müsste ein ‚do no harm’-Konzept für nicht-intendierte negative Nebenwirkungen von humanitärer Hilfe auf bestehende Ungerechtigkeiten und Ausgrenzungen in einer Gesellschaft und auf die Umwelt aussehen?

Welche Art Monitoring zur möglichst frühzeitigen Erfassung negativer Wirkungen der Hilfsmaßnahmen auf die Lage der schwächsten Gesellschaftssektoren und die Umwelt ist denkbar?

Wenn Reduzierung von Verletzlichkeit eine permanente und Querschnittsaufgabe ist, wo und wie ist sie optimal zu verankern – in der HH, in der EZ?

 3. Auf Potentialen aufbauen, Potentiale aufbauen

Die zunehmende Popularität der humanitären Hilfe und das parallel abnehmende Interesse an EZ hängt nicht nur mit der verbreiteten Vorstellung zusammen, dass – entgegen meiner bisherigen Aussagen – humanitäre Hilfe es mit weniger komplexen Problemen zu tun und weniger komplexe Zusammenhängen zu berücksichtigen hat und darum unmittelbarer und direkter dem gut gemeinten Sinne entsprechend auch gut ist. Diese unterschiedliche Entwicklung mag auch mit der Vorstellung/Erwartung zu tun haben, dass hier der ausländische Helfer noch mehr gefragt ist, den die allgemeine Durchsetzung des Selbsthilfeansatzes in der EZ weitgehend aus den Hilfsmaßnahmen herausgedrängt hat. Bilder von weißen Helfern in aller Art Uniformen (‚Deutsche helfen’) dominieren den öffentlichen Eindruck vom humanitären Hilfegeschehen.

Die großen Katastrophen diesen Jahres vom Tsunami über den Hurrican Stan zum jüngsten Erdbeben in Pakistan/Kashmir haben massiv die Infrastruktur des jeweiligen Landes zerstört. Dadurch waren die Betroffenen über mehrere Tage bis Wochen nicht von außen erreichbar und somit in großen Teilen der Nothilfephase ausschließlich auf ihr Selbsthilfepotential angewiesen. Dies hat erneut demonstriert, dass die Hilfe in den entscheidenden ersten Tagen in den betroffenen Regionen von der Bevölkerung selbst in großem Umfang zu leisten ist und im Rahmen ihrer Kapazitäten und Ressourcen auch geleistet wird – z.B. von den Kirchen und Gemeinden auf den indonesischen Inselgruppen der Nikobaren und Andamanen, die lange Zeit von der Regierung ignoriert wurden.

In der Konsequenz weist dies auf die dringende Notwendigkeit hin, in ‚ sog. ‚desaster prone areas’, d.h. Gegenden, die regelmäßig oder nach wissenschaftlicher Erkenntnis sehr wahrscheinlich von Naturkatastrophen heimgesucht werden, oder mit chronischen politischen Krisen fertig werden müssen, „zwischen den Katastrophen“ lokale Ressourcen zu stärken und Selbsthilfefähigkeiten auszubilden (capacitiy building). Im Sinne von ‚Preparedness muss die Bevölkerung dabei unterstützt werden, sich ihrer eigenen Potentiale im Zusammenhang der humanitären Selbsthilfe bewusst zu werden und sie bewusst auszubauen. Ihre Fähigkeit zur Selbstorganisation/ zum Community-Organizing muss gezielt unterstützt werden – was auch für langfristige Entwicklungsprozesse unabdingbar ist. Ferner muß auf allen Ebenen der Aufbau von Hilfsstrukturen und –mechanismen der Bevölkerung, bzw. lokaler gesellschaftlicher Organisationen, die Einrichtung von Frühwarn- und Kommunikationssystemen, die Anlage von Vorräten und Logistikplänen etc. gefördert werden. Als Folge solcher Maßnahmen wird die Kraft zur Selbsthilfe und in der Regel auch zur politischen Selbstartikulation gegenüber Regierenden wie auch fremdem Helfern etc. gestärkt, was auch in der Wiederaufbauphase bedeutsam ist und die Abhängigkeit der Betroffenen von Hilfe von außen reduziert. Eine der besten Voraussetzungen für Entwicklung – zugleich Ziele von Entwicklung.

Faktisch droht der Interventionscharakter humanitärer Hilfe jedoch latent, die betroffene Bevölkerung zu überrennen und ihr Subjektsein (nicht Objektsein!) der ersten Hilfe, der Rehabilitation und des Wiederaufbaus zu entwerten, sie zu entmündigen, entmutigen und ihre Gemeinschaftsstrukturen im schlimmsten Falle zu zerstören. Die Betroffenen selbst von Anfang an (d.h. bereits bei der Bedarfserhebung, Planung und Durchführung der Hilfsmaßnahmen) nicht nur formal mitentscheiden, sondern das Projekt eigenständig tragen zu lassen, ist darum nicht nur ein Mittel, sondern Bestandteil des mittel- und langfristigen Zieles: Stärkung lokaler Potentiale. In der Regel ist dies nur, oder mindestens besonders da möglich ist, wo ausländische Organisationen über lokale Partner arbeiten und konsequent auf die Mitarbeit der Bevölkerung als zentralem Bestandteil setzten.

Im Übrigen ist – jedenfalls für uns christliche Organisationen – die Achtung der Würde der Menschen und ihrer eigenen Bedürfnisse und Fähigkeiten das entscheidende Qualitätsziel, das hundertfach mehr wiegt als rein technische Qualitätskriterien (Größe, Form etc. von Toiletten etc.).

Die Ausrichtung auf die nachhaltige Stärkung vorhandener Potentiale im Zuge der Katastrophenhilfe umfasst indes ein erweitertes Umfeld: ausgehend von den eigenen Kräften und Möglichkeiten der Betroffenen über Nachbarregionen bis hin zu Nachbarländern. Eine Katastrophe ist immer dann am größten, wenn das Verhältnis zwischen vorhandenen Ressourcen zur Eindämmung von Schäden vor Ort, im Land, in der Region und dem akuten Bedarf negativ ist. Vorhandene Ressourcen müssen darum nicht nur identifiziert und optimal eingesetzt werden. Ihr Vorhandensein muss auch nachhaltig gepflegt, gestärkt und ausgebaut werden. Dies gilt z.B. für die Stärkung lokaler Produktion und lokaler Märkte etc. bei der Beschaffung von Hilfsgütern. Viel Schaden für die Wirtschaftskraft gesamter Regionen kann durch die Einfuhr von Lebensmitteln und Gütern bewirkt werden, die eigentlich im Land oder mindestens der Region selbst produziert und verkauft werden. Eine konsequente Entwicklungsorientierung der Nothilfe ist darum unabdingbar, da sonst die regionale Wirtschaftskraft und Ernährungssicherung in einer Weise zerstört werden können, die die Region noch verwundbarer für Katastrophen und im negativsten Fall sogar dauerhaft abhängig von externer Hilfe macht.

Es sollte darum grundsätzlich nur soviel an externen menschlichen und materiellen Ressourcen eingebracht werden, wie nicht vor Ort und in der erreichbaren Region verfügbar ist und die Partner vor Ort dezidiert als notwendige Ergänzung ihrer eigenen Potentiale nachfragen.


Fragen:

Katastrophen-Vorbeugung und -Vorbereitung (Preparedness und Prevention), die Stärkung des Selbsthilfepotentials sind unverzichtbare Bestandteile der Sicherung von Lebensbedingungen gerade in Gebieten mit hohem Risiko:

Wie hoch ist unsere Bereitschaft, diese Anforderungen offensiv in die normale Entwicklungsarbeit einzubeziehen?

Wie groß sind die Möglichkeiten der Katastrophenhilfe, bei knappen Finanzen Mittel von der Nothilfe für Vorsorge einzusetzen?

Welche Forderungen sind in diesem Kontext an die örtlichen Regierungen zu stellen?

Wie verträgt sich der Fokus auf vorhandene lokale, nationale, regionale Ressourcen mit dem Bedürfnis von Medien und Politik, ‚deutsche Hilfe’ als solche sichtbar zu machen?

Wie mit dem politischen Druck, gegebenenfalls eigene (z.B. Agrar-)Überschüsse zu verwenden?

Wie mit dem – durch das Steuerrecht erhöhten – Umsetzungsdruck hoher zweckgebundene Spendensummen – sofern gegeben? (Mit dem Einsatz eines interkontinentalen Transalltransportes für Hilfsgüter wird viel Geld auf einmal ausgegeben….)

 4. Vom Hilfs- zum Rights-Approach?

Die Verweigerung elementarer Rechte und Freiheiten ist in vielen Fällen Mit-Ursache hoher Verletzlichkeit und Betroffenheit, inklusive der Schwierigkeit der Überwindung von Schäden aus eigener Kraft. Insofern muss ein Fokus auf Stärkung der Menschenrechte Betroffener präventiv in der Entwicklungszusammenarbeit und im Zuge der – mindestens mittelfristigen – humanitären Hilfe selbst gelegt werden. Dies korrespondiert mit dem Anliegen, die Menschen im Katastrophengebiet darin zu stärken, selbst Subjekte und nicht Objekte des Wiederaufbaus zu sein insofern, als es bei beidem um die Anerkenntnis der Tatsache geht, dass die Menschen, die in unseren Medien und bei manchen Hilfsorganisationen häufig als ‚Opfer’ portraitiert werden, keine Hilfsempfänger aus Gnaden sind. Sie sind vielmehr Träger von Rechten und Rechtssubjekte. Sie haben nicht nur ein Recht auf Leben, Gesundheit, Zugang zu sauberem Wasser etc. – den ganzen Kanon der WSK-Rechte -, sondern auch im speziellen Fall der humanitären Krise häufig auch ein Recht auf Entschädigung, das Recht auf Information und das Recht auf Selbstbestimmung. Alle drei Rechte spielen beim Wiederaufbau eine wichtige Rolle. In der Entwicklungshilfe wird seit längerem der Rights-Based-Approach diskutiert und Menschenrechts- und Entwicklungsorganisationen und ihre Partner können im Wiederaufbauprozess eine wichtige Rolle dabei spielen, daruf zu achten, dass diese Rechte eingehalten und umgesetzt werden. Aber es ist auch eine Aufgabe humanitärer Organisationen, diese rechte nicht nur bei ihrem eigenen Hilfsgebaren zu achten, sondern auch, die betroffenen Menschen dabei unterstützen, diese Rechte gegenüber den politisch Verantwortlichen einzuklagen. Ziel wäre hier, die Unabhängigkeit von fremder Hilfeleistung so rasch wie möglich wieder herzustellen, was bisher nicht zwingend dem Ansatz und Ethos humanitärer Hilfsorganisationen entspricht.

Langfristig in Richtung Prävention ist die Unterstützung besonders diskriminierter Bevölkerungsgruppen wie Frauen, ethnische Minderheiten, Kleinbauern und –fischer bei der Erlangung von Rechtstiteln zur Sicherung ihres Landes, ihres Gewerbes etc. notwendig, um die Verletzlichkeit dieser Gruppen zu senken.

Gute Beispiele sind hier in der Arbeit nach dem Tsunami die Unterstützung betroffener Küstenbewohner- noch während die erste Nothilfe im Gang war – dabei, ihre Interessen bei der Gestaltung der Wiederaufbaupläne (neue Flächennutzungspläne) durchzusetzen – durch Beschaffung, Sammlung, Dokumentation und Veröffentlichung von Informationen und durch Rechtsbeistand gegenüber Behörden zur Erlangung zustehender Hilfsmittel, Landtitel etc. und Lobbyarbeit.

Fragen:

Verträgt sich ein Rightsbased-Approach (oder mindestens Elemente davon) mit dem Image und Selbstverständnis humanitärer Hilfsorganisationen?

Steht politische Advocacy im Widerspruch zur notwendigen Neutralität humanitärere Organisationen? Gefährdet ein Engagement im rechtlichen/politischen Bereich die Möglichkeiten von Organisationen, zu helfen?

Wer kümmert sich um diese Rechte, wenn integrierte Nothilfe dies nicht kann oder will?

4. Entwicklungsorientierte Nothilfe, Krisen-orientierte Entwicklungshilfe

Einige Organisationen der Nothilfe, bzw. Organisationen, die Entwicklungs- und Nothilfe unter einem Dach vereinigen, reagierten auf die geschilderten Herausforderungen, indem sie Konzepte einer ‚entwicklungsorientierten Nothilfe’ entwickelten. Bei diesem Konzept werden sowohl die akuten Bedarfe der Überlebenshilfe (lives) erfasst und befriedigt, als auch der gesamte Lebenszusammenhang (livelihoods) der Betroffenen einbezogen und nachhaltig gefördert.

Um dies zu erreichen, bedenken spezialisierte Nothilfeorganisationen – wie die Diakonie Katastrophenhilfe – nicht nur jede Maßnahme unter dem Gesichtspunkt, wie sie langfristig Gerechtigkeit, Entwicklung, Frieden, Menschenrechte und Umwelterhalt fördert, statt sie zu unterlaufen, sondern dehnen ihre Hilfe in der Wiederaufbauphase auch auf die Förderung der wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Lebensbedingungen der Betroffenen aus.

Umgekehrt engagieren sich spezialisierte Entwicklungsorganisationen in akuten Nothilfephasen auf Seiten ihrer langfristigen Partner in Advocacy- und wiederherstellender Aufbauarbeit. Dies vor allem, wenn von ihnen geförderte Entwicklungsprozesse und -partner durch die Katastrophe direkt betroffen sind, oder wenn sie einen wichtigen Beitrag zur Abwendung drohender Diskriminierung im Hilfe- und Wiederaufbauprozess leisten können.

Gleiches geschieht analog zu den Geber-Organisationen auch in den Partnerorganisationen vor Ort, mit den gleichen Vor- und Nachteilen.

Auf diese Weise scheint der Gegensatz zwischen Nothilfe und Entwicklungshilfe heute zu verschwimmen: mit dem Vorteil, der Komplementarität der beiden Bereiche gerecht zu werden; mit dem Nachteil, eine Vernachlässigung originärer Arbeitsbereiche und eigener Schwerpunkte zu riskieren.

Zu letzterem muss festgehalten werden, dass einer der wichtigsten Unterschiede der beiden Arbeitsbereiche darin besteht, dass Humanitäre Hilfe unvorhersehbaren und unplanbaren Geschehnissen folgen muss, während Entwicklungshilfe Förderregionen und –sektoren auswählen und Prioritäten nach eigenen Kriterien setzen kann, die sie – gemäß der notwendigen Langfristigkeit der Strategie – in der Regel jedoch auch länger binden. Eine institutionelle Verschmelzung beider Hilfsformen hat darum einige Unwägbarkeiten und scheint nicht zwingend die beste Lösung, die Anliegen aufeinander zu beziehen.

Auch die sehr unterschiedliche Organisationskultur und Gangart von Nothilfe- und Entwicklungsorganisationen legen diese Abwägung nahe. Es ist schwer, von einem Arbeitsrhythmus zum anderen zu wechseln, oder beiden Anforderungen gleichzeitig gerecht zu werden, ohne die notwendige Qualität und Professionalität einzubüßen.

Dessen unbeschadet macht (vor allem, aber nicht nur) in langandauernden konflikt-bezogenen Krisen ein enges Zusammenspiel der Arbeitsbereiche Nothilfe und EZ in Fällen Sinn, in denen verschiedene Bedarfsszenarien nebeneinander bestehen und flexible aufeinander abgestimmte Antworten bedingen.

Frage: Welche Erfahrungen ziehen wir aus der teilweisen Überlagerung von Nothilfe und Entwicklungsarbeit für die Organisation der Arbeit in den Geber- und den Partnerorganisationen?