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Ein Katastrophenjahr geht zu Ende

12. Januar 2010: Das Jahr begann mit dem schwersten Beben in der Geschichte Nord- und Südamerikas und erschütterte Haiti, das ärmste Land der westlichen Hemisphäre. Die Zahl der Todesopfer lag bei mindestens 200.000. Rund 300.000 Menschen wurden verletzt, etwa 1,2 Millionen Menschen wurden obdachlos. Viele hatten alles verloren. Der Bedarf an schneller Hilfe war immens.
Die damit verbundenen Schwierigkeiten ebenfalls. Hilfeleistungen begannen zunächst nur in sehr kleinem Umfang: Verteilt werden konnte über Tage nur sehr wenig an die Bevölkerung, medizinische Hilfe konnte nur in geringem Umfang geleistet werden, an die Bergung verschütteter Menschen war in den ersten Tagen praktisch kaum zu denken. Warum?

Schon vor dem Beben hatten die Menschen mit der täglichen Katastrophe zu kämpfen: Die allgemeine Versorgungssituation ist – u.a. aufgrund klimatischer Veränderungen, Ernteausfälle, der globalen Wirtschaftskrise und fehlender Investitionen im landwirtschaftlichen Bereich – schon seit Jahren katastrophal, das Land auf Hilfe von außen angewiesen. Das Erdbeben traf eine Bevölkerung, deren Alltag für ca. 70% von Armut, Hunger, Mangel, Tod durch unsauberes Wasser, durch Unterernährung und mangelnde medizinische Versorgung geprägt ist.

Der Staat hat seit Jahrzehnten zu wenig Geld, um seiner Bevölkerung die nötigen sozialen Dienstleistungen zu bieten, die Sicherheit nach innen aufrecht zu erhalten und eine Infrastruktur aufbauen und erhalten zu können – von intakten Verkehrswegen, funktionierenden Telekommunikations-, Katastrophen- und Zivilschutzsystemen also erst recht keine Rede. Damit fehlte jede politische, soziale und logistische Infrastruktur und die Ressourcen, die man für humanitäre Hilfeleistungen im großen Stil braucht.

Wir müssen zur Kenntnis nehmen: Diesen Menschen und dieser Regierung wollte lange keiner uneigennützig helfen, darum ging es nach dem Beben nur extrem langsam und schwierig! Das Land wurde so lange von der Welt vernachlässigt, dass das neu erwachte Verantwortungsgefühl nach dem Beben und nun bei der Cholerabekämpfung auf keine Infrastruktur bauen konnte. Medizinische Notversorgung und Lebensmittelverteilung im Akutfall gehen nicht ohne langfristige strukturelle Armutsbekämpfung und Ernährungssicherung! Armutsbekämpfung ist aus der Mode gekommen, ja, wird neuerdings vom zuständigen Ministerium sogar als ‚Weltsozialamtspolitik’ diskreditiert. Man kann sie aber nicht überspringen und direkt zur Humanitären Hilfe schreiten.

Lesson learnt: Ohne Entwicklungshilfe kann es in Ländern wie Haiti auch keine schnell wirksame humanitäre Hilfe geben. Beides ist nötig und nicht das eine auf Kosten des anderen!

Die Medien haben mit ihren Sondersendungen und Spendenaufrufen für viel Solidarität gesorgt – aber auch immer wieder falsche Erwartungen an die Geschwindigkeit der Hilfe geweckt. Ohne eine minimale soziale und sonstige Infrastruktur kommt selbst Katastrophenhilfe in einem solchen Fall nicht aus. Niemand konnte in Haiti so schnell helfen, wie alle es gerne getan hätten.

Zehntausende sind nicht nur unmittelbar während des Erdbebens, sondern auch noch an den Folgen gestorben. Helfer konnten in Ermangelung der dazu notwendigen Infrastruktur weder den Verletzten, noch den Verschütteten helfen. Alle mussten dem Sterben hilflos zusehen. Die haitianische Bevölkerung hat keine Zweifel daran gelassen, wohin sie ihre Augen aufhebt und von wo ihr nach ihrer Meinung Hilfe herkommt. Immer wieder hörten wir in Interviews und in den Ohnmachts- und Schmerzensschreien der Menschen den Ruf „Jesus, Jesus“! Ein in den Trümmern seiner Schule unrettbar eingeklemmter Lehrer antwortete auf die Reporterfrage: „Was geht ihnen in dieser Situation durch den Kopf? Sind sie nicht furchtbar wütend?“ Der Lehrer antwortete: „Mein Leben steht in Gottes Hand!“ Der Reporter wandte sich schweigend ab… Die Erkenntnis, dass unsere eigene Macht und Hilfsvermögen Grenzen hat, wir in manchen humanitären Krisen nur noch die Ohnmacht der am schwersten leidenden Bevölkerung solidarisch teilen können, sollte eigentlich zu mehr eigener Demut führen. Wir als Christ/innen in diesem Land sollten dem Allmachtswahn und den Rufen nach ganz schneller Hilfe öffentlich widersprechen, um dem öffentlichen Druck zur Lüge („Wir konnten sofort mit ihrem Geld helfen!“) zu widersprechen und um auf den zu verweisen, in dessen Macht und Hand alleine unser aller Leben steht.

Auch die Diakonie Katastrophenhilfe – wiewohl dennoch als eine der ersten aktiv – hat eine Weile gebraucht, um sich erst selbst zu sortieren und dann rasch zur Not-Unterkunft auch für andere Mitgliedsorganisationen unseres gemeinsamen weltweiten kirchlichen Hilfsnetzwerkes ACT Alliance zu werden. Wir waren dann die erste Hilfsorganisation in der schwer betroffenen Stadt Jaqmel, die Zelte vor Ort gebracht hat. Rund 10.000 Menschen wurden mit dem Notwendigsten versorgt. Aufbauend auf der akuten Nothilfe begann sie ein Cash-for-Work-Programm, in dem Erdbebenopfer für einen geringen Tagelohn die Trümmer der zerstörten Häuser wegräumten, um den Wiederaufbau vorzubereiten. Dank des Geldeinkommens konnten die Betroffenen so beginnen, sich wieder auf lokalen Märkten selbst zu versorgen und von Nahrungsmittellieferungen unabhängig werden.

Heute, 10 Monate später, ist das Medieninteresse abgeklungen und flackert nur sporadisch auf, wenn der Ausbruch einer Cholera-Epidemie oder ein erneuter tropischer Wirbelsturm das Land trifft. Abseits der öffentlichen Wahrnehmung schreiten die Wiederaufbaumaßnahmen der Diakonie Katastrophenhilfe jedoch gut voran. Im Projektgebiet im Süden des Landes konnten bereits 397 Häuser rehabilitiert bzw. neu aufgebaut werden, drei Schulen wurden neu errichtet. Auch der Wiederaufbau von Gesundheitsstationen konnte begonnen werden.

Wie nachhaltig ist die Hilfe in Haiti? Nützt Katastrophenhilfe in einem Land, das von chronischer Armut und ständig wiederkehrenden Katastrophen geprägt ist? Die Antwort ist ein klares Ja.

Erstens konnte die akute Nothilfe besser geleistet werden, weil vorgesorgt worden war. Die Diakonie Katastrophenhilfe war schon vor dem Beben vor Ort, zu einer Zeit also, in der das Land noch als „vergessene Katastrophe“ galt. Die besten Schadens- und Bedarfserhebungen in der Süd-Region wurden nach dem Erdbeben von Zivilschutzkomitees erstellt, welche die DKH schon vor dem Erdbeben ausgebildet hatte.

Zweitens ist der Wiederaufbau nachhaltig angelegt. Anstelle provisorischer Unterkünfte setzt die Diakonie Katastrophenhilfe auf den Wiederaufbau lokal angepasster, kostengünstiger Häuser und erhält dafür sehr viel Zustimmung von der Bevölkerung und den lokalen Behörden. Die festen Häuser sind nur unwesentlich teurer als die Notunterkünfte aus Holz und bieten mehr Schutz vor tropischen Wirbelstürmen, wie sie in Haiti erneut zu befürchten sind.

Während viele Organisationen längst wieder abgezogen sind, werden kirchliche Werke wie die Diakonie Katastrophenhilfe noch Jahre im Land bleiben. Schon in ihrer Grundsatzerklärung 2003 stellte die Diakonie Katastrophenhilfe fest: „Kirchliche Katastrophenhilfe braucht einen langen Atem. Wir begleiten die Menschen im Notgebiet solange sie Schutz und Hilfe benötigen – auch dann und gerade dort, wo besondere Notsituationen, Katastrophenfälle in Vergessenheit geraten sind oder erst gar nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden.“

Die Opfer von Katastrophen brauchen schnelle unmittelbare Überlebenshilfe. Zugleich ermöglicht uns jeder Euro an zweckungebundenen Spenden, Vorsorgemaßnahmen durchführen zu können. So können wir Nothilfe nachhaltig leisten und an den Ursachen der Verletzlichkeit arbeiten. Vor Ort zu sein, wenn andere Werke noch nicht oder nicht mehr präsent sind, weil das Interesse der Öffentlichkeit einen neuen Schauplatz gefunden hat, ist für uns ein Gebot christlicher Nächstenliebe und ein Zeichen gelebter ökumenischer Geschwisterlichkeit.

Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel ist Direktorin der Diakonie Katastrophenhilfe.