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Kirche und Aids. Glaube. Würde. Glaubwürdig sein.

ÖKT: Podiumsdiskussion im Zentrum Positiv am 29.5.03
Einführungsstatement von Pfn. C.Füllkrug-Weitzel, Direktorin von Brot für die Welt

 Was ist Kirche im Angesicht von Aids? lautet die Frage, die uns heute auf den Weg gegeben ist.

1. Zunächst eher Teil des Problems, als Teil der Lösung. Weltweit ist das Thema Aids in den Kirchen noch immer tabuisiert, weil es mit vielen kulturellen, aber auch christlichen Tabuthemen verbunden ist. Auch in Deutschland haben die Kirchen noch immer so viele Vorurteile und Berührungsängste gegenüber dem Thema, wie sie es gegenüber den besonderen Risikogruppen haben: Homosexuelle, Drogenabhängige, Prostitutierte und Stricher werden als ‚soziale Problemgruppen’ und daher ausschließlich diakonisch wahrgenommen und in mancher Hinsicht nicht wie jeder andere Mensch auch in der Kirche behandelt (Stichwort ‚Trauung homosexueller Paare’). Darum liegt das ‚selbst schuld’ schnell auf der Hand, wenn es um HIV/Aids geht. Rund um die Welt fällt Christen beim Stichwort Aids nicht Krankheit, sondern Sünde, moralisches Versagen, Promiskuität – und z.B. in Russland – auch noch Kriminalität ein. Das gilt auch in Deutschland: Ich erhalte in meiner Eigenschaft als Direktorin von ‚Brot für die Welt’ nicht wenige Briefe von Gemeindechristen, in denen über die Krankheit als ‚gerechter Strafe Gottes’ gesprochen und wir – unter der Androhung, im Falle der Zuwiderhandlung die Einzugsermächtigung zu kündigen – aufgefordert werden, den Kampf gegen Aids nicht zu unterstützen. Auch unter Christen in Deutschland ist also noch immer nicht allgemein anerkannt, dass Aids eine Krankheit ist und dass Verhaltensweisen, die zur Infektion führen, entscheidend mit Fragen von gesellschaftlicher Macht und Kontrolle, mit Fragen struktureller Gewalt und sozialer Gerechtigkeit zu tun hat und erst in zweiter Linie mit biologischen Anlagen und individuellen moralischen Werten.

Diese Missinterpretation in unseren eigenen Reihen führt dazu, dass wir uns nicht hinlänglich für die Würde und Rechte der von der Krankheit betroffenen Menschen einsetzen und sie alleine lassen mit ihren vielfachen gesundheitlichen und sozialen Problemen. Sie leistet auch der gesellschaftlichen Stigmatisierung und Diskriminierung der Erkrankten Vorschub, was heute weltweit als das größte Problem im Kampf gegen Aids gilt. Und sie führt dazu, dass wir zentrale Zusammenhänge übersehen und wesentliche Aufgaben in der Aidsprävention weltweit vernachlässigen.

2. Die Kirchen haben eine ungeheure Verantwortung angesichts von Aids, weil sie als Hüterinnen der Moral, als Wertemittler gelten.

a) Sie haben aufgrund dieser Autorität eine besondere Verantwortung und Chance dafür, die Krankheit vom Geruch der Sünde zu befreien und die Opfer endlich schuldfrei zu sprechen – so wie Jesus die Frage zurückgewiesen hat, ob der … selbst schuld sei, oder seine Eltern. Keiner hat sich Aids ausgesucht und keiner hat die Krankheit ‚verdient’. Jesus klagt nicht an und grenzt nicht aus, er stellt vielmehr die Würde jedes Menschen wieder her und heilt zerbrochene und gestörte Gemeinschaften, er tritt ein für Gerechtigkeit.. Wenn die Kirchen weltweit zur Lösung beitragen wollen und nicht länger Teil des Problems bleiben wollen, so müssen sie endlich umgekehrt die Ausgrenzung und Diskriminierung Sünde zu nennen, weil sie gegen den Willen Gottes sind. Es ist an der Zeit, mit der Suche nach Schuldigen für diese Krankheit und mit Schuldzuweisungen an die Betroffenen aufzuhören und stattdessen das öffentliche Bewusstsein darauf zu lenken, welche gesellschaftlichen und kulturellen Mechanismen die rasende Verbreitung ermöglichen und Leute zu Opfern machen – besonders Frauen und Kinder. Es geht um das Überleben ganzer Nationen und Gesellschaften und deshalb auch um gesellschaftliche, ökonomische und politische Ursachenbekämpfung: D.h. es geht weltweit z.B. um Armutsbekämpfung und Ernährungssicherheit, um Beendigung der internationalen Schuldenkrise, um den Kampf dagegen, dass die Preisgestaltung von Medikamenten für die Pandemie sich noch immer am Profit und weniger an der Überlebenssicherung orientieren, um ein Ende der Diskriminierung, Unterdrückung und Ausbeutung von Frauen und der Gewalt gegen sie.

b) Die Kirchen sind auch für die massive Doppelmoral im Bereich Sexualität verantwortlich. Aus Sorge um die Aufrechterhaltung der eigenen Moralvorstellungen und Dogmen, stellen sie sich nicht der Realität vor- und ausserehelicher Beziehungen und sexueller Gewalt und gehen nicht offen mit ihr um – zum Nachteil vor allem der Frauen. Sie tragen so dazu bei, den Mantel des Schweigens noch fester um alles zu hüllen, was mit der Übertragung der Krankheit zu tun hat. Ihr Festhalten an den hohen ethisch-moralischen Idealen und kirchlichen Dogmen als einzige Antwort auf die Frage der Transmission trägt zur Verunsicherung der Menschen über die Verhütung bei.

3. Die Kirchen haben im Kampf gegen Aids – jedes Einzelnen und der Welt – eine ungeheure, wohl die beste Waffe: das Evangelium vom Leben!

a) Es deckt das Ausmaß dieser so nachhaltig geleugneten größten gegenwärtigen Todesbedrohung der Menschheit auf – täglich sterben in Subsahara-Afrika immerhin 6.300 Menschen daran und man rechnet, dass die Krankheit bis 3010 an die 60 Millionen Tote gekostet haben wird! – und protestiert gegen die Ignoranz der ‚Herrschaftsvölker’, die nur Anlass zum Handeln oder zur Finanzinvestition sehen, wenn das Leben der eigenen Bevölkerung bedroht ist (siehe 11.September und Folgen). Von welchen Toten ‚spricht man’? Die Kirchen haben der Todesbedrohung durch die Pandemie eine Vision vom Leben in Fülle und eine starke Hoffnung entgegenzusetzen. Das ist eine der stärksten Kraftquellen und Motivation für den persönlichen und den weltweiten Kampf gegen die angsteinflössende Zerstörungskraft der Krankheit. Der Glaube an die frohe Botschaft macht gegen jedes Gerede von Schicksal immun und sucht und findet die Wege, der Verbreitung von Aids die Stirn zu bieten. Bei Gott gibt es keine hoffnungslosen Fälle. Allen Menschen mit Worten, eigenem Verhalten und diakonischem Tun zu verkünden, dass Jesus Leben bedeutet und dass er alles, was den Tod will und bringt unter seine Füße getan, besiegt hat und darum auch diese schreckliche Krankheit besiegbar ist – das ist ihr Auftrag und ihr besonderer Lösungsbeitrag. So fördert sie die Bereitschaft, mit allen Kräften Lösungsmöglichkeiten zu fördern.

b) Mit der Versöhnungsbotschaft Jesu haben die Kirchen ferner Grund und Vorbild, alles, was die Menschen von Gott und von ihren Mitmenschen trennt, zu überwinden und die von uns errichteten Barrieren und Machtasymmetrien weg zu wischen zwischen Kranken und Gesunden, Männern und Frauen, Menschen verschiedner sexueller Orientierung, verschiedener Kulturen, zwischen sog. ‚Sündern’ und ‚Heiligen’, Insidern und Ausgegrenzten. Mit Jesus und in seinem Auftrag kann sie das Schuldprinzip aufheben und Diskriminierung und Stigmatisierung ein Ende setzen. Er versöhnt und heilt und die Kirche in seiner Nachfolge hat eben diese Mission, diese Chance und diese Kraft.

4. Die Kirchen sind auch darüber hinaus bestens geeignet, der Ausbreitung der Seuche und der Resignation in ihrem Gefolge Einhalt zu bieten: Weltweit sind sie fast in jedem Winkel der Erde in lokalen Strukturen verwurzelt. Sie verfügen über einen beträchtlichen Grad von Vertrauen und Glaubwürdigkeit bei den Menschen und haben Zugang zu vielen Menschen. Sie organisieren weltweit die Frauen und die Jugend. Sie sind darum hervorragend in der Lage, Gemeinschaften zu informieren, zu orientieren und zu mobilisieren, sich für Präventionsmaßnahmen zu öffnen und sich an der Betreuung von Betroffenen zu beteiligen.

Sie verfügen weltweit über unendlich viele sozialdiakonische Einrichtungen und Infrastrukturen im Gesundheitsbereich, sowie über Millionen Haupt- und Ehrenamtlicher, die in der Aufklärung, der Beratung und seelsorgerlichen Begleitung, der Behandlung und Pflege Kranker und der Unterstützung von Waisen und Witwen eine gewaltige Rolle spielen können. Schätzungsweise jeder weltweit 3. – wenn nicht jeder zweite – Aidskranke wird in einer Einrichtung und von Mitgliedern christlicher Kirchen versorgt. Die weltweite Christenheit hat in vielen Regionen und auf UN-Ebene das Gehör politisch Verantwortlicher und stellt eine mächtige Lobbykraft dar. Die weltweite Ecumenical Advocacy Alliance und das Nationale Aktionsbündnis gegen Aids stellen das gerade unter Beweis.

Die Kirchen haben weltweit begonnen, alle diese ihre Ressourcen zu mobilisieren – wenn sie sie voll nutzen und entfalten werden, werden sie einen mächtigen Wendepunkt in der Geschichte der Pandemie herbeiführen können!

4. Was ist die Kirche angesichts von Aids? Sie steht der Krankheit nicht bloß von Angesicht zu Angesicht gegenüber: Aids prägt auch das Angesicht der Kirche. Christus hat sich nicht nur allen Ausgegrenzten und von Todesmächten umfangenen Menschen zugewandt und hat sich an ihre Seite gestellt. Er hat sich mit ihnen ganz direkt identifiziert (s.Mt.25). In den Aidsinfizierten begegnen wir auch Christus, er trägt ihre Züge.

a) Das Angesicht der weltweiten Gemeinschaft der Kirchen selbst ist aber auch ganz real von Aids geprägt: 42 Millionen Menschen weltweit sind Aids-infiziert. 25-30 Millionen davon mögen getaufte Christen sein. Aids ist also kein Problem von ‚denen da draußen’, kein Problem der sündigen Welt, das vor der ‚Gemeinschaft der Heiligen’ halt gemacht hat. Nicht einmal vor dem Klerus – auch wenn infizierter Würdenträger zweifelsohne das beste gehütetste Geheimnis und die Tendenz, einschlägige Krankheitssymptome umzudeuten, hier am höchsten ist.

Die Kirchen sind dadurch in ihrer Lebens-, Verkündigungs- und Handlungsfähigkeit sowohl direkt wie indirekt betroffen: Klerus und Laien, das Personal kirchlicher Verwaltungen, Entwicklungsprojekte, Schulen und Krankenhäuser ist erkrankt, geschwächt, stirbt. Häusliche Pflegepflichten, Zweitjobs, weil weitere Ernährer der Großfamilie gestorben sind, häufige Beerdigungsteilnahme lassen ihre Leistungsfähigkeit sinken. Wenn in Afrika damit gerechnet wird, dass ganze Berufszweige ausgelöscht werden und die Zahl arbeitsfähiger ausgebildeter Menschen in Verwaltung und sozialen Diensten sich bis 2005 halbiert, wenn im Subsahara-Afrika die Lebenserwartung schon um 15 Jahre gesunken ist und weiter sinkt – wie könnte dann nicht die Lebenserwartung ihrer haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeiter und ihrer Studierenden und die Fähigkeit der Kirchen zu Verkündigung und Dienst permanent sinken?

b) “Die Kirche hat Aids!“ Es ist Zeit, dass Kirchenleitungen weltweit – auch um den Preis von Image- und Mitgliederverlust – sich vor den eigenen Gemeinden und vor der breiten Öffentlichkeit dazu bekennen – vielleicht in einer neuen ‚Standing for the Truth’-Campaign. Es ist gut, dass damit in Afrika und Asien bereits begonnen wurde. Genau das würde und wird helfen, die Mauer des Schweigens und der Diskriminierung zwischen den sog. Heiligen und den sog. Sündern einzureißen. Es ist Zeit, dass die Kirchen sich endlich zu den Kranken in ihren eigenen Reihen bekennen, sich bei ihnen entschuldigen für angetanes Unrecht, den Erkrankten einen gleichberechtigten Raum in ihrem Leben und Dienst einräumt, eine Heimat, wo sie geborgen sind und sich angenommen fühlen können und wo sie zurück zu ihrer Würde finden können, ein Ort, wo ihr Leiden mitgetragen und ihre Rechte verteidigt werden. Eine Kirche, die akzeptiert, dass die von ihr verkündeten Ideale selbst von den eigenen Gliedern und Amtsträgern vielfach nicht in die Praxis umgesetzt werden, der Realität sexueller Beziehungen in der gegebenen soziokulturellen Umgebung nicht entsprechen und offensiv versucht, diesen Zwiespalt zu thematisieren und zu heilen, könnte auch einen wichtigen Beitrag in der Kondomfrage leisten, bei der es in Zeiten von Aids ja nicht um eine Frage der Moral, sondern um eine Frage von Leben und Tod geht.

c) Mag die Aussage ‚die Kirche hat Aids’ auch besonders für die Kirchen in Afrika gelten, wie könnten wir hier uns von ihr distanzieren, ohne die Gemeinschaft mit erkrankten Gemeindegliedern in der eigenen Kirche und ohne die ökumenische Gemeinschaft mit der weltweiten Christenheit aufzukündigen und damit unsere Identität als weltweiter und konfessionsübergreifender Leib Christi zu verleugnen? Gilt doch: Wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder! Wir sind ‚untereinander Glieder’ (Eph.4,25) vom Geist zu einem Leib zusammengefügt, ob wir es wollen oder nicht, untrennbar miteinander verbunden, aufeinander angewiesen in Freud und Leid, zu einem verantwortlichen Leben innerhalb der Gemeinschaft aufgerufen. Aids ist unser gemeinsames Problem als Kirchen Christi und als Gemeindeglieder rund um die Welt. Das Problem der Infizierten und der Nicht-Infizierten gemeinsam. Weder Moral noch Kontinentgrenzen noch Einzelkelche helfen uns, uns von dem Problem zu distanzieren. Was tun wir also, um unsere Geschwister weltweit in ihrem Kampf gegen die tödliche Pandemie zu unterstützen?