Suche
Suche Menü

Predigt Weihnachten 2001

„Denn ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich war, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich werdet..“ (2.Kor. 8,9)

Liebe Gemeinde,

„Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Christus“. Na, ja. Zumindest wissen wir, worauf wir gewartet haben den ganzen Advent lang. Dass der König der Ehren einziehe, auf dessen Schulter alle Herrschaft ruht. Der Großartige, der Wunder-Rat, Gott-Held, Ewig-Vater, Friedefürst. Wir haben im Glanz der immer mehr werdenden Lichter den Abglanz des Himmels gesucht und das Strahlen des Siegers. Haben auf den gewartet, der das Gedröhn der Militärstiefel zum Schweigen bringt, der den Löwen zum Lamm macht und schreiender Ungerechtigkeit ein Ende setzt. Ganz stark und konkret war diese Hoffnung dieses Jahr, weil so bitter nötig angesichts des mörderischen Ringens um Gerechtigkeit weltweit und im Nahen Osten. Vier Wochen lang haben wir gehofft und gebetet, dass unser Gott dazwischen geht und den ganz großen Durchbruch bringt, die machtvolle Wende – jetzt. Bilder von Stärke, von Allmacht, von Glanz und Gloria haben unser Warten bestimmt. Bilder, an denen man sich stärken und aufrichten kann in diesen niederschmetternden Zeiten. Wir kannten die Gnade Gottes, um die wir gefleht haben.

Aber dann? Wohin hat uns Weihnachten geführt?

Zum Kind in der Krippe. Einem erbarmungswürdigen Kind ohne Dach über dem Kopf, von allen abgewiesen. Einem zarten Säugling in einem unsterilen und zugigen Stall – ungeschützt und wehrlos preisgegeben allen Mächten und Gewalten. Verfolgt und in die Flucht getrieben von der Stunde seiner Geburt an. Zu einem armseligen Wesen, das nicht besser dran als die Neugeborenen in den afghanischen Bergen, deren Mütter selbst zu wenig zu essen haben, um Milch zu produzieren, weil der Krieg die Nahrungsmittellieferungen in die Berge vor dem Wintereinbruch vereitelt hat. Nicht besser dran, als ein Säugling in den Slums von Buenos Aires, dem nachts die Ratten übers Gesicht laufen und der von Dauer- Durchfall geplagt wird, weil seine Regierung kein Geld für Wasserleitungen und für die medizinische Versorgung der Bevölkerung hat. Zu hoch sind die Schuldendienstleistungen an internationale Banken, die seit Jahrzehnten am Land verdienen. Kaum besser dran als die Bauernkinder, deren Familien nun nach der Aufnahme Chinas in die Welthandelsorganisation WTO ihr Land und damit jedwede Existenzgrundlage verlieren und hungernd durch das Land ziehen werden – von Experten geschätzte 180 Mio. Familien! Nur knapp besser dran als das palästinensische Kind, das dieser Wochen kurz vor Bethlehem – wenige Meter vom Stall entfernt – mitsamt seiner Mutter an einem der zahllosen neuen israelischen Checkpoints bei der Geburt sterben musste, weil das israelische Militär der Schwangeren die Weiterfahrt nach Bethlehem ins Krankenhaus über Stunden verwehrt hat. Blockadepolitik.

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die wir – laut Paulus – kennen sollten, ist so ganz anders, als das, was wir für nötig halten, um das Elend in diesen Gegenden der Welt zu wenden, um der Ungerechtigkeit und Gewalt weltweit ein Ende zu setzen. Kommt er doch nicht als Allmächtiger, sondern als Ohnmächtiger, nicht als Nothelfer, sondern als Notleidender, nicht als prachtvoller, glänzender Held, sondern als ein weiterer Wehrloser, der wie ein Schaf zur Schlachtbank geführt werden wird, ein weiterer aus dem Heer der Habenichtse und Ausgegrenzten. Die Unmenschlichkeit der Umstände seiner Geburt unterscheidet sich nicht von der von Milliarden Kindern auf der Erde, die unter Hunger, Armut, Krieg Verfolgung leiden. Auf seiner Krippe liegt schon der Schatten des Kreuzes, eines gewaltsamen, Gott verhassten Todes, wie er milliardenfach erlitten wird auf dieser Welt.

Was hat das mit Gnade zu tun? „Obwohl er reich war, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich werdet“.

Gott vergisst in seinem unvergleichlichen Reichtum die Armen nicht: Er knipst nicht den Fernseher aus und sagt: ‚ich mag diese schrecklichen Bilder von leidenden Menschen nicht mehr sehen’ und lehnt sich gemütlich zurück. Er distanziert sich auch nicht von ihnen, stößt sie nicht weg – fort aus seinem Blick. Aus den Augen, aus dem Sinn. Er will die Armen nicht loswerden, wie die Deutsche Bahn AG die Obdachlosen von den Bahnhöfen, die dort um Suppe anstehen. Er nimmt nicht nur die Starken und Erfolgreichen wahr und eröffnet ihnen Chancen, um noch weiter zu kommen, wie im globalen Wirtschaftssystem die starken Regionen und Nationen. Er lässt sich nicht blenden von guten Börsenkursen und Megagewinnen, die vom Wohlstand zeugen sollen, den die Globalisierung angeblich weltweit schafft. Er durchstößt allen Scheinglanz von Reichtum, Klugheit und Macht, um die zu finden, die sich selber nicht helfen können, die nichts sind und haben und die am tiefsten angewiesen sind auf Barmherzigkeit.

Was hülfe den Armen auch ein weiterer Reicher und Allmächtiger, der nichts von ihrem Leben kennt und versteht? Der Lichtjahre von ihnen entfernt meilenweit über ihnen steht? Ein weiterer, der wieder über ihre Köpfe hinweg plant und handelt? Gott lässt die Armen nicht im Stich, er nimmt die Menschen auf ihrer Strohschütte mit dem bisschen Nichts über dem Kopf wahr und legt sich in ihre Hütte. Von allen Menschen ist er ihnen am nächsten. Er gibt ihnen nicht bloß Almosen, sondern teilt ihr Schicksal, er wird selbst einer von ihnen und teilt ihre tägliche Pein. Er denkt und plant seine Befreiung der Menschen von ihnen her – da aus der Krippe heraus. Der ganze Glanz der Ewigkeit leuchtet aus der Geburtstätte der Ärmsten der Armen und erscheint über den Menschen in Armut – frohe Botschaft für die Armen.

Das ist auch frohe Botschaft für alle. Gott lässt uns Menschen nicht allein mit unserer Unmenschlichkeit, unter der wir gerade in diesen Wochen so leiden – politisch und persönlich. Er lässt uns nicht allein mit dem, was uns quält und was uns fehlt, nicht allein mit dem, was wir anrichten, wie wir einander zurichten und seine gute Schöpfung entstellen. Er lässt uns nicht alleine mit der Unerfüllbarkeit unserer Träume nach Gerechtigkeit und Frieden, die uns arm macht. Er teilt die Schattenseiten menschlichen Lebens – die kleinen und die großen, die persönlichen, die gesellschaftlichen und die globalen. Er teilt unsere Brüchigkeit und Widersprüchlichkeit, unser Scheitern und unsere Enttäuschungen, unsere unerfüllten Sehnsüchte und erloschenen Träume, unseren Egoismus und unsere Gier. All das ist Gott nicht verborgen geblieben. Aber er stellt uns damit nicht bloß, nutzt diese Blößen nicht aus und verwendet sie nicht gegen uns, sondern nimmt sie an, wird selber nackt und bloß und hebt sie so in Liebe auf. Er hält an uns fest und rechnet uns nicht unser Versagen und unsere Schuld vor und zu: „Selbst schuld diese Menschen an ihrem Unfrieden und ihrer Ungerechtigkeit, was geht mich das an, was habe ich damit zu schaffen?“ So tun wir es gerne mit den Armen, mit den Obdach- und Arbeitslosen und so tun wir es gerne mit den Völkern, die unter Armut leiden. Er hebt die Schuldfrage in ihrer Bedeutung auf, indem er sie auf sich selbst nimmt: warum auch immer ihr arm seid – ich nehme es auf mich, ich trage die Konsequenzen mit!

Darin offenbart er seine Größe und einzigartige Macht. Das ist das wahre Gesicht seines Reichtums: Verständnis und Güte, Gerechtigkeit und Liebe. Wer solchen Reichtum hat, teilt ihn nicht mit der Geste der Herablassung. Achtung, Liebe, Gotteskindschaft bringt er uns entgegen und stellt so unsere Menschlichkeit und unsere Würde wieder her. Er macht sich uns gleich, so werden wir wieder die, als die er uns geschaffen hat: Geschöpfe nach seinem Bilde, reich an Hunger nach Gerechtigkeit und Frieden, fähig zur Aufmerksamkeit für die Schwachen und Leidenden, fähig zur Liebe, zum Teilen, zur Gerechtigkeit und zum Frieden, reich an seiner Lebendigkeit, Zukunft, Hoffnung. Gottes Geschenk ist nicht begrenzt auf Weihnachten, sondern umschließt unseren Alltag. Gott kommt jeden Tag neu zur Welt, um Menschen reich zu machen, um sie von ihrer geistlichen und materiellen Armut, ihrer Trostbedürftigkeit und ihrem Leiden zu befreien und ihre Defizite an Barmherzigkeit und Zuwendung zu heilen. Er kommt in uns und durch uns erneuerte Menschen neu zur Welt und erneuert durch uns das Gesicht der Erde.

Denn Gott schickt uns mit diesem Reichtum, diesem Geschenk der Weihnacht in den Alltag des kommenden Jahres. Es ist ein Geschenk mit Konsequenzen. Um die geht es Paulus im 8.Kapitel des Briefes an die Korinther, aus dem unser Predigtvers entstammt. Es trägt die Überschrift: ‚Die Geldsammlung für die Gemeinde in Jerusalem’. Paulus erzählt der Gemeinde in Korinth von der riesigen Anstrengung, die die Gemeinden in Mazedonien unternommen haben, obwohl sie selbst arm waren, um der armen und leidenden Gemeinde in Jerusalem beizustehen: “Denn während sie durch schweres Leiden geprüft wurden, haben sie in überschwänglicher Freude trotz ihrer großen Armut reichlich gegeben und mit lauterem Sinn.“ Um wie viel mehr dann aber die reiche Gemeinde zu Korinth? An sie, die sich trotz eigenen Reichtums nur zögerlich an dieser Sammlung, die Paulus ein Liebes-, bzw. Gnadenwerk nennt, zu beteiligen scheint, wendet er sich mit den Worten: “Denn ihr kennt die Gnade/ das Gnadenwerk unseres Herrn Jesus Christus: obwohl er reich war, wurde er doch arm um euretwillen, damit ihr durch seine Armut reich werdet.“ Erinnert euch an Gottes Gnadenwerk: den Ausgleich zwischen Gott und Mensch durch Mitleid und Anteilnahme und durch Teilgabe, der Weihnachten geschah. Es hat euch befähigt wieder eben solche Geschöpfe Gottes zu werden, die ihren Besitz loslassen können, um andere zu stärken. Ihr seid durch ihn reich geworden, habt von ihm einen Reichtum von der Sorte bekommen, der durch Teilen nicht verloren geht: Liebe, Aufmerksamkeit, Zuwendung, Gerechtigkeit. Das alles wird durch Teilen nicht weniger, in alledem sind wir gerade dadurch reich, das wir uns mit seinem Reichtum verschenkt wie Christus. Liebe ist die Fähigkeit, loszulassen. Wenn wir nicht nur etwas, sondern uns verschenken, werden wir reicher. Wir gewinnen im Geben. Wie Jesus und durch Jesus sind wir nicht für uns Reiche, sondern für andere Reiche. Nicht bloß, weil und wenn jemand anderes arm ist, wollen wir mit ihm teilen, sondern weil wir selbst reich gesegnet und beschenkt sind von unserem Gott mit einem Geschenk, das seine lebensspendende und zukunftsstiftende Wirkung im Weitergeben, im Teilen entfaltet. Durch Gottes Gnadenwerk/Liebeswerk in Jesus sind wir selbst befähigt zu solchem Liebeswerk. Fähig, zu sagen: warum auch immer ihr anderen arm seid, wir nehmen es auch als unsere Schuld an, wir nehmen es auf uns, und wir tragen die Konsequenzen mit. Und schaffen so einen Ausgleich, wie Paulus sagt: „Ich meine damit nicht, dass die anderen gute Tage haben sollen und ihr Not leidet, sondern es soll zu einem Ausgleich kommen. Euer Überfluss soll jetzt ihrem Mangel abhelfen, damit auch ihr Überfluss später eurem Mangel abhelfen kann, wie geschrieben steht (2.Mose 1,18): „Wer viel sammelte, der hatte keinen Überfluss, und wer wenig sammelte, hatte keinen Mangel“.

Der Hunger und das Elend wird dadurch nicht mit einem Schlage gewendet, die ungerechte Weltwirtschaftsordnung wird so nicht abgeschafft, dass in ihrer Mitte Christen den nahen und den fernen Nächsten weitergeben, was sie empfangen haben und so wenigstens einen Ausgleich schaffen. Gerechtigkeit auf Erden werden wir durch Solidarität und Ausgleichszahlungen, wie ich Kollekten und Spenden einmal nennen möchte, nicht herstellen – auch nicht, wenn es – wie Paulus fordert, mehr ist als nur vom ein bisschen vom Überfluss. Aber es macht einen Unterschied, ob arme Menschen im eigenen Land und in Afrika, Asien, Lateinamerika durch unsere Solidarität erfahren: wir sind nicht allein gelassen, der vergessene, letzte Dreck der Menschheit, sondern unser Schicksal wird gesehen, unsere Schreie nach Hilfe und Gerechtigkeit werden erhört. Jemand steht an unserer Seite, macht sich unser Anliegen und Geschick zu seinem/ihrem und rechnet uns unsere Armut nicht als unsere Schuld zu nach dem Motto: Die sind zu faul zum Arbeiten, zu dumm zum Organisieren etc.. Es macht einen Unterschied, ob sie erfahren: wir haben einen Platz am Tisch Gottes und wir haben ein Recht auf einen Platz an den Tischen der Welt. Und wenn sie durch eine selbstverständliche und nicht herablassende Art unserer Unterstützung erfahren, dass sie gleich würdig und wert sind, dass wir vor in der Gemeinschaft derer, die auf Gottes Liebe angewiesen sind, gleich arm und durch ihn gleich reich sind.

Es macht einen Unterschied, ob Menschen, die warum auch immer arm sind, z.B. in der Spendenwerbung, als hilflose, erbarmungswürdige Wesen dargestellt werden, oder als Menschen, deren Gott sich bereits erbarmt hat, deren Gestalt und Schicksal er angenommen hat, mit denen er sich gleich gemacht hat. Dann sehen wir nicht zuerst die von Not entstellten Hilfsbedürftigen, sondern das Angesicht des Menschen nach Gottes Ebenbild. ‚Brot für die Welt’ legt darauf sehr viel Wert – schauen sie sich unseren Kalender am Ausgang daraufhin an!

Es macht einen Unterschied, wenn wenigstens die Kirchen den Schein der heilen Wohlfahrtswelt infrage stellen, der gewahrt wird, indem die Armen als Spielverderber und Störenfriede, als selbst Schuldige diffamiert und aus dem Blick der Öffentlichkeit verjagt werden. Es macht einen Unterschied, wenn wenigstens wir Christen sagen: das Maß aller Ökonomie muss das Wohlergehen der schwächsten Glieder der Gemeinschaft sein. Wenn sie immer wieder laut und öffentlich die Armen ins Blickfeld und in den Mittelpunkt rücken. Wenn wenigstens die Kirchen gegen die Ausgrenzung und die krasse Chancenungleichheit ganzer Ländern, Regionen, Menschengruppen aus der globalen Ökonomie protestieren.

Um wie viel mehr wir, denen es an materiellem Besitz nicht mangelt, als jene, die selbst kaum etwas haben und doch so selbstverständlich teilen, wie ich es gerade in Kenia erlebt habe: da lassen Glieder einer bitterarmen Gemeinde jeden dritten Tag die karge einzige Mahlzeit des Tages ihrer Familie ausfallen, um davon die wachsende Zahl der Aidswaisen in ihrer Mitte zu ernähren. Wenn wir das Brot des Lebens täglich neu geschenkt bekommen, sollten wir da nicht wie selbstverständlich ‚Brot für die Welt’ geben können, dankbar geben wollen?