Mitgliederversammlung der Offenen Kirche am 19.2.2011, Stuttgart
Vortrag von Pfn. Cornelia Füllkrug-Weitzel / Brot für die Welt
I Ein Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte
Die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt“ ist von „Brot für die Welt“, dem Evangelischen Entwicklungsdienst und dem Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland herausgegeben worden. Erstellt hat sie das renommierte Wuppertal Institut. Sie hat eine bekannte Vorgängerstudie: „Zukunftsfähiges Deutschland“ aus dem Jahre 1996. Inzwischen ist das öffentliche Bewusstsein für Umweltfragen in Deutschland deutlich gewachsen, doch der notwendige Kurswechsel steht noch immer aus. „Nachhaltigkeit“ ist gesellschaftlich gewünscht, aber nur, solange sie niemanden stört. Wir wissen, wie weitreichende Veränderungen umzusetzen wären – doch wir handeln nicht. Es ist eine schizophrene Situation, in der man hofft, die Industriegesellschaft ließe sich einfach ökologisch modernisieren, ohne dass die Orientierung auf ständiges Wirtschaftswachstum und die kulturelle Verengung auf materiellen Reichtum kritisch hinterfragt werden müsse. Dieser Weg führt in die ökologische Sackgasse und geht auf Kosten der berechtigten Entwicklungsansprüche der armen Länder. [vgl. ZD, Kap. 1]
Das erklärte Ziel der Studie ist es, die Nachhaltigkeitsdebatte herauszufordern, gesellschaftliche Konfliktlinien offen zu benennen, Gestaltungsmöglichkeiten aufzuzeigen und unsere globale Mitverantwortung konsequent in den Blick zu nehmen. Unsere Öffentlichkeits- und Bildungsarbeit zur Studie haben wir unter das Motto „Zukunft fair teilen“ gestellt. Mit ihr wollen wir insbesondere die Qualifizierung des Nachhaltigkeits-diskurses innerhalb der Evangelischen Kirche unterstützen und zum gemeinsamen Handeln ermutigen. Die Synode der EKD hat ihren Gliedkirchen empfohlen, für die Bewusstseinsbildung zur Umsetzung von Klimaschutzmaßnahmen insbesondere die Studie „Zukunftsfähiges Deutschland“ zu nutzen. Auch die Denkschrift „Umkehr zum Leben“ bezieht sich auf die Studie.
Die ersten Erfolge machen Mut für mehr. Wir wollen den angestoßenen Diskurs weiter kritisch begleiten, für die Option der Gerechtigkeit werben und konkrete Handlungsmöglichkeiten aufzeigen. Das Leitbild einer zukunftsfähigen Entwicklung fordert uns in der Umsetzung selbst heraus. „Brot für die Welt“ möchte den gemeinsamen Suchprozess nach zukunftsfähigen Lebensweisen innerhalb der Evangelischen Kirche unterstützen. Das Veränderungspotential der Kirchen in Deutschland ist enorm.
Die Kernaussagen der Studie in einem Vortrag zu bündeln, ist ohne Verkürzungen nicht möglich. Ein solcher Einblick kann die Lektüre nicht ersetzen und wird zum Teil auch erst in ihrem Zusammenhang voll verständlich. Dieser Vortrag soll nicht die technischen Details vertiefen, sondern zentrale Aussagen verdeutlichen, die eine Diskussion anregen. Die entscheidende Frage ist dabei: Was können wir tun?
II Eine dramatische Situation
Das Dilemma unserer Zeit mit ihren multiplen Krisen ist bekannt [vgl. ZD, Kap. 2.1] und soll hier nicht länger ausgeführt werden. Der Ökologische Fußabdruck illustriert das Problem. Seit den 80er Jahren beansprucht die Menschheit mehr Biokapazität als der Planet schadlos bereitstellen kann. Seit drei Jahrzehnten lebt die Menschheit also bereits bei der Natur auf Pump. Dabei herrscht eine extreme Ungleichheit im Umweltraum. Der durchschnittliche, ökologische Pro-Kopf-Fußabdruck ist in den Industrieländern doppelt so hoch wie in den so genannten Schwellenländern und sechsmal so hoch wie in den Entwicklungsländern. [vgl. ZD, Kap. 3.1]
Die Klimakrise ist eine unmittelbare Bedrohung der menschlichen Zivilisation. Der Handlungsbedarf ist akut. In den nächsten 10 Jahren muss es zu einer Trendwende bei den Treibhausgasemissionen kommen und bis 2050 müssen die Emissionen global um mindestens 60 Prozent gegenüber 1990 verringert werden. Deutschland muss seine Emissionen dabei auf 5 Prozent des Wertes von 1990 senken – so die Erkenntnis in seriösen Szenariostudien, die nun zunehmend in europäische Regelungen übersetzt wird. Dies zeigt was für eine gewaltige Transformation in Deutschland erforderlich ist. Am Beispiel der Klimakrise wird deutlich, dass Gerechtigkeit zur Voraussetzung für das gemeinsame Überleben geworden ist. Ohne eine gerechte Aufteilung der Lasten werden Entwicklungs- und Schwellenländer sich schlicht nicht auf eine Beschränkung ihrer Treibhausgasemissionen einlassen. Gelingt ein solidarisches Vorgehen aber nicht, werden die Schwächsten unter den Folgen des Klimawandels wiederum am härtesten leiden.
III Zukunftsfähige Entwicklung statt Kohle und Kolonien
Unsere fernen Nächsten, die in materieller Armut leben, haben einen legitimen Anspruch auf die Steigerung ihres Wohlstandes. Sie haben ein Recht auf ausreichende und gesunde Nahrung, auf Gesundheitsversorgung, auf Bildung, auf Bekleidung und ein Dach über dem Kopf. Die Verfügbarkeit von Energie ist dafür eine zentrale Voraussetzung. Wie kann diesem Entwicklungsbedarf entsprochen werden ohne dass der Planet dabei in die Knie geht?
Die wirtschaftliche Entwicklung der euroatlantischen Zivilisation hatte zwei zentrale Entwicklungsvoraussetzungen, die beide mit der Verschiebung von natürlichen Grenzen verbunden waren. Erstens überwand man die Begrenzung der regenerativ verfügbaren energetischen Rohstoffe (Großbritannien war bereits fast vollständig entwaldet.). Man wagte den Griff in die Erdkruste und erschloss mit Kohle, Öl und Gas scheinbar unendliche Energiemengen, die die Maschinen des wirtschaftlichen Aufstieges antrieben. Zweitens verschob man die geographischen Grenzen. Durch die Kolonialisierung wurde der Zugriff auf zusätzliche biotische Rohstoffe und kostenfrei angeeignete Arbeitskraft möglich. Kohle und Kolonien – die beiden Entwicklungsvoraussetzungen des westlichen Wohlstands – stehen für heutige Entwicklungsländer nicht mehr zur Verfügung. Es gibt keine neuen Kolonien, die sich von ihnen ausbeuten ließen. Bei den fossilen Rohstoffen wäre Kohle zwar noch für knapp zwei Jahrhunderte verfügbar. Doch ihre exzessive Verbrennung würde Klimaschutz gänzlich unmöglich machen. [vgl. ZD, Kap. 3.1]
Die Länder des Südens benötigen neue Entwicklungsperspektiven. Nur wenn sie es schaffen, wirtschaftliche Entwicklung ohne ökologischen Raubbau zu erreichen, kann der Kollaps der Ökosysteme verhindert werden. Der Fortschritt der Industrieländer im fossilen Zeitalter muss genutzt werden, um allen Menschen ein würdevolles Leben zu ermöglichen. Für den Verzicht auf fossile Energieerzeugung, für den Erhalt der Wälder und für den Einsatz zukunftsfähiger Technologien und damit den Sprung in das solare Zeitalter werden die Industrieländer den Entwicklungs- und Schwellenländern substantielle finanzielle und technologische Unterstützung geben müssen. Zukunftsfähige Entwicklung für die Armen in der Welt ist nur möglich, wenn wir eingestehen, wo Armut ein Kollateralschaden der Reichtumserzeugung ist. Armut kann nicht nur als ein Mangel an Geld gesehen werden, sondern ist insbesondere ein Mangel an Macht. Das ruft nach mehr Rechten und mehr Selbstbestimmung. Die Stärkung der Menschenrechte, eine faire Wirtschafts- und Handelspolitik mit einer gerechteren Verteilung der Gewinne und der Kosten und die treuhänderische Verwaltung der Gemeingüter gehören zu Mitteln, mit denen allen Menschen Gastrecht auf der Erde zukommen kann. [vgl. ZD, Kap. 7.2]
Doch diese für die Zukunft der Benachteiligten notwendigen Veränderungen werden nur umsetzbar sein, wenn die Interessen der wirtschaftlich und militärisch Mächtigen mit ihnen harmonieren. „Erst wenn die Nachfrage nach Öl sinkt, lohnt es nicht mehr Förderzonen im Urwald zu erschließen, erst wenn der Wasserdurst von Plantagen und Fabriken abklingt, bleibt genügend Grundwasser für Trinkwasserbrunnen in den Dörfern, erst wenn der Wunsch nach Rindersteaks zurückgeht, braucht nicht mehr Boden für Weiden und Futtermittelanbau vereinnahmt zu werden. Kurz gesagt, ressourcenleichte Produktions- und Konsummuster sind die Basis für eine menschenrechtsfähige Weltressourcenwirtschaft.“ (S.212f.) [vgl. ZD, Kap. 7.4]
Die Novelle “Wie viel Erde braucht der Mensch?” des russischen Schriftstellers Leo Tolstoi ist eine Parabel über menschliche Gier: Bauer Pachom vereinbart mit Landbesitzern in Baschkirien, dass er so viel Land erhält, wie er an einem Tag umrunden kann. In seiner Gier schlägt er seinen Kreis immer größer. Als er am Abend an den Ausgangspunkt zurückkommt, bricht er erschöpft zusammen und stirbt. So braucht er am Ende nur zwei Quadratmeter Land für sein Grab.
„Es ist genug für alle da“ – so die zukunftshoffende Botschaft von „Brot für die Welt“. Doch dies wird nur möglich, wenn die globale Konsumentenklasse ihren ökologischen Verschwendungsrausch mäßigt. „Zukunft fair teilen“ erfordert eine Transformation im Norden.
IV Vom Tanker zum Segelschiff
Der Weg aus dem fossilen hin zu einem solaren Zeitalter lässt sich mit dem Vergleich von Tanker und Segelschiff verdeutlichen. Das vergehende, industrielle Zivilisationsmodell gleicht einem Öltanker: ein Ungetüm aus Stahl, angetrieben von vielen Tonnen fossiler Brennstoffe. Der Tanker bringt gigantische Leistungen. Aber er ist auch schwer zu manövrieren und nur auf breiten Seestraßen einsetzbar. Außerdem ist er eine Gefahrenquelle und verschmutzt die Weltmeere. Das ökologische Zivilisationsmodell hingegen gleicht einem modernen Segelschiff: Es ist vergleichsweise klein, aber auch leicht und wendig. Angetrieben wird es von solarer Energie in Form von Wind. Dabei kann es dank menschlichem Geschick sogar gegen den Wind kreuzen und sein Ziel erreichen. Zugegeben: Die Leistungskraft ist geringer als die des Tankers. Doch dafür hinterlässt es keine Dreckspur, funktioniert auch noch, wenn kein Öl mehr verfügbar ist und produziert keine Schäden für Mensch und Natur. [vgl. ZD, Kap. 8]
Die Generierung von ökologischem Wohlstand kann mit der Bewahrung der Schöpfung im Einklang stehen. Die Faustformel dafür lautet: besser, anders, weniger.
Besser (Effizienz / Dematerialisierung): Zu viel Gewicht bremst den Segler. Er vermeidet Verschwendung. Effizienzsteigerung wird sich zukünftig nicht mehr auf Kapital- und Arbeitsproduktivität konzentrieren, sondern vor allem die Ressourcenproduktiviät in den Blick nehmen. Ressourcenleichte und verbrauchsarme Produkte werden eine lange Lebensdauer haben, die durch hohe Qualität und schöne Form gefördert wird. Effiziente Prozesse sorgen für behutsamen Ressourceneinsatz und kluge Wiederverwendung, indem sie Nutzungskreisläufe entwickeln. So kann beispielsweise der Rohstoff Holz zunächst als Baumaterial verwendet werden, danach für Möbel und Pressholzprodukte und später für Pappe- und Papierprodukte bevor er schließlich der energetischen Nutzung zugeführt wird. Effizienz wird auch durch den Übergang vom Verbrauch zum Gebrauch und vom Besitzen zum Nutzen möglich. Viele Dinge werden nur selten genutzt, aber mit hohem Energie- und Materialverbrauch hergestellt. Autos, Waschmaschinen, Staubsauger, Leitern und Werkzeuge gehören zur Standardausrüstung der allermeisten Haushalte. Der eigentliche Nutzen besteht jedoch nicht im Besitz, sondern in der Funktion, die ein Gegenstand hat. Es sei denn der Besitz ist Statussymbol, wobei Frau wohl seltener dazu neigen einen Staubsauger als Statussymbol zu betrachten, als Männer ein Auto.Gemeinsam nutzen statt allein besitzen, lautet die Devise. Intelligente Organisationskonzepte, soziale Innovation und eine Haltung der Achtsamkeit treten an die Stelle der maßlosen Umwandlung von Rohstoffen in Gegenstände. Die goldene Regel einer ökoeffizienten Ökonomie lautet: „Erwarte nicht von der Natur, mehr zu produzieren – erwarte von den Menschen, mehr mit dem anzufangen, was die Natur produziert“ (S. 224). [vgl. ZD, Kap. 8.1]
Anders (Konsistenz / Naturverträglichkeit): Im Solarzeitalter geht es darum Flüsse zu ernten und nicht Bestände zu plündern. Doch der Verzicht auf den Rausch fossiler Energie bedeutet nicht die Rückkehr zu den energiearmen Verhältnissen einer Bauerngesellschaft. Durch naturverträgliche Techniken ist eine Wissensgesellschaft auf mittlerem energetischem Niveau möglich. Das Hauptstück einer naturverträglichen Wirtschaft werden die von der Sonne bereitgestellten Ressourcen sein: Solarstrahlung, Wind- und Wasserkraft, Biomasse, dazu die Geothermie und die Gezeiten. Sie alle sind weitgehend klimaneutral. Sie lassen sich zu großen Anteilen dezentral nutzen und verteilen und begünstigen darum kleinräumige, weniger kapitalintensive Wirtschaftsweisen. Sie schützen Natur und Landschaft, sie bauen die Marktmacht multinationaler Energiekonzerne ab, und können in den Entwicklungsländern einen wichtigen Beitrag zur Armutsreduzierung leisten.
Ein treffendes Beispiel für die elegante Einbettung von Produktion in die Natur ist die biologische Landwirtschaft. Sie kennzeichnet auch eine Re-Regionalisierung der Wirtschaftstätigkeit, die in einer postfossilen Ökonomie für viele Produktionsbereiche mit der Umsetzung von Naturverträglichkeit einhergeht. [vgl. ZD, Kap. 8.2; 14.5]
Weniger (Suffizienz / Selbstbegrenzung): Ein Segelboot kann keine schweren Lasten laden und nur eine maßvolle Fahrtgeschwindigkeit halten. Und so genügen auch Dematerialisierung und Naturverträglichkeit nicht, um einen sehr viel kleineren ökologischen Fußabdruck ins Werk zu setzen. Wenn die Wirtschaftsleistung unablässig ansteigt, werden Effizienzeffekte durch Mengeneffekte zunichte gemacht. Effizienz schützt nicht vor Übermaß und auch naturverträgliche Energien und Materialien sind nicht grenzenlos verfügbar. So gefährdet die Produktion von Agrotreibstoffen zunehmend die Nahrungsmittelproduktion. „Brot für die Welt“ weist auf diesen Zusammenhang schon lange hin.
Der srilankische Klimaexperte Prof. Mohan Munasinghe (Vize-Präsident des IPCC) wirbt dafür auf der UN-Konferenz für nachhaltige Entwicklung 2012 Millenniumskonsumziele (MCG) zu verabschieden. So wie die Länder sich mit den Millenniumsentwicklungszielen (MDG) auf die Entwicklung für die Armen in der Welt verständigen, sollen Millenniumskonsumziele formulieren wie die Reichen in der Welt mit maßvollerem Konsum und ökologischen Wohlstandsformen eine Voraussetzung für die Bewahrung der Schöpfung leisten können. Unsere Botschaft „Es ist genug für alle da“ provoziert für uns selbst also die Frage „Wie viel ist genug?“. Eine postfossile Zivilisation benötigt eine Ökonomie des Genug. Das Rezept für Nachhaltigkeit funktioniert nur, wenn alle drei Zutaten verwendet werden: Effizienz, Konsistenz und Suffizienz. [vgl. ZD, Kap. 8.3]
V Was hält uns auf?
Ein gewichtiger Hinderungsgrund für den notwendigen Transformationsprozess ist die vorherrschende Wachstumsorientierung der Industrieländer. Kein seriöser Wirtschaftswissenschaftler nimmt an, dass eine große Volkswirtschaft dauerhaft eine hohe jährliche prozentuale Wachstumsrate aufrechterhalten kann. Doch die Politik klammert sich am Ziel Wachstum fest. Die letzte Bundestagswahl wurde mit Wachstumsversprechen gewonnen. Anschließend wurde ein Wachstumsbeschleunigungsgesetz verabschiedet.
Solange ein relevanter Teil unserer wirtschaftlichen Aktivität mit Ressourcendurchsatz und Produktion verbunden bleibt, ist eine ausreichende Entkopplung von Wirtschaftswachstum und Naturverschleiß nicht denkbar. Selbst eine geringe jährliche Wachstumsrate von 1,5 % entspräche einer Verdopplung des Bruttoinlandsproduktes bis zum Jahre 2050. Im gleichen Zeitraum muss der fossile Ressourcenverbrauch mindestens um den Faktor 10 verringert werden. Das hieße, dass selbst ein schwaches Wachstum nur ökologisch vertretbar wäre, wenn sich die Ressourcenproduktivität bis 2050 verzwanzigfachen würde. Doch schon von dem in der Nachhaltigkeitsstrategie der Bundesregierung formulierten Ziel, die Ressourcenproduktivität bis 2020 lediglich zu verdoppeln, sind wir noch weit entfernt. [vgl. ZD, Kap. 4]
Wachstum wird noch immer vorwiegend in Geldwerten gemessen. Es wäre automatisch niedriger, wenn wir die tatsächlich entstehenden Kosten berücksichtigen würden. Doch sowohl ökologische als auch soziale Kosten werden auf die Gesellschaft abgewälzt. So müssen UnternehmerInnen und VerbraucherInnen für die Umweltschäden, die sie verursachen, nicht aufkommen. Den Schaden tragen alle. Ausbeuterische Arbeitsverhältnisse verursachen enorme gesellschaftliche Schäden in den Ländern, in denen wir unsere T-Shirts, Schuhe und sonstigen Gegenstände produzieren lassen, aber sie sorgen für niedrige Preise. Die sozialen und ökologischen Kosten, die wir in Kauf nehmen, sind schon lange so hoch, dass man eigentlich von unwirtschaftlichem Wachstum sprechen müsste. [vgl. ZD, Kap. 10.1]
In den wirtschaftlich schwächer entwickelten Ländern lässt sich die Frage, ob Wachstum notwendig ist, weniger eindeutig beantworten. Das gewaltige Wirtschaftswachstum der letzten drei Jahrzehnte in China hat zwar gewaltige Umweltschäden verursacht, aber es hat den Anteil der extrem Armen in der chinesischen Bevölkerung auch von über 50 % auf unter 10 % gesenkt. „Falls es gelingen sollte, den Millenniumsentwicklungszielen entsprechend bis 2015 den Anteil der extrem Armen an der Weltbevölkerung zu halbieren, wird das in erster Linie China zu verdanken sein“ (S.65). Doch selbst in den wirtschaftlich schwach entwickelten Ländern ist Wirtschaftswachstum nicht mit Armutslinderung gleichzusetzen. Staatliche Entwicklungszusammenarbeit, die vorrangig auf die Steigerung von Wirtschaftswachstum in Ländern des Südens abzielt, ist kein Garant für Armutslinderung.
Gerade die ärmsten Länder verzeichnen beträchtliche Wachstumsraten bei gleichzeitig steigender Armut. Kirchliche Entwicklungszusammenarbeit fördert Entwicklung, die tatsächlich den Armen weiterhilft.
Sicher lässt sich sagen: Wirtschaftswachstum im Norden damit zu rechtfertigen, dass man den Armen in der Welt weitere wirtschaftliche Entwicklung in einer nun mal globalen Weltwirtschaft nicht verwehren dürfe, verkennt die Zusammenhänge unseres Weltwirtschaftssystems. [vgl. ZD, Kap. 3.1; 7.2]
An die Stelle des Wachstums der Wirtschaft wird der Gedanke ihrer Fortentwicklung treten. In einer nachhaltigen Wirtschaft wird es Wachsen und Schrumpfen geben. Wachsen kann alles, was zugleich der Zukunftsfähigkeit und der Lebensqualität dient. Und Schrumpfen muss und wird, was die Ressourcen übernutzt und den sozialen Zusammenhalt beschädigt. [vgl. ZD, Kap. 4.6]
Ist dies einmal klar benannt, muss die Allianz der Blockierer gar nicht lange beschrieben werden: Ob Auto- und Chemieindustrie, ob Energiekonzerne, für die jedes Jahr mehr Laufzeit für Kern- und Kohlekraftwerke zusätzliche Gewinne bedeutet, ob Bauernverband oder auch Parteien und Gewerkschaft, sie alle mobilisieren gewaltige Kräfte, um einen Kurswechsel zu verhindern. Ein Kurswechsel erfordert deshalb auch zu erkennen, wenn Partikularinteressen gegen das Gemeinwohl wirken und dem entschieden entgegenzutreten. [vgl. ZD, Kap. 13.1]
VI Wie es gelingen kann
Mit einer Allianz der Mutigen und Entschlossenen würden sich die Blockierer überwinden lassen. Doch der Wachstumsfetisch hält uns zurück. Dadurch vergeuden wir Kraft und Zeit, die wir dringend bräuchten, um an einer zukunftsfähigen Entwicklung zu arbeiten. Doch das Wachstum hält nicht was es verspricht. So führt beispielsweise stetig wachsender Konsum, nicht zu mehr Glück. Die Studie spitzt den Konflikt so zu: „Das Warenglück ist dem wahren Glück geradezu entgegengesetzt. Während Ersteres von seinem Zuschnitt her außengesteuert und mit schnellem Verfallsdatum versehen ist, beruht Letzteres auf Innensteuerung und Langfristigkeit“ (S. 236). Gelingt es uns die falschen Erwartungen der Wachstumsfixierung zu entmystifizieren, können wir anfangen unsere Gesellschaft so umzubauen, dass ein gutes Leben für alle möglich wird, ohne dass Sozialsysteme und Schuldenabbau vom Wachstum unserer Wirtschaft abhängen. [vgl. ZD, Kap. 4.5]
Bei der Frage nach den Akteuren des Wandels macht die Studie deutlich, dass vom privaten Engagement vor Ort, über den Paradigmenwechsel in der Wirtschaft bis hin zur Gestaltung der politischen Rahmenbedingungen, auf allen Handlungsebenen umfassendes Engagement unentbehrlich ist. Ein Fehler wäre es, eine Ebene gegen die andere auszuspielen. Dennoch kommt der Politik eine entscheidende Rolle zu. Von ihr müssen Leitplanken gesetzt und Anreize gegeben, aber auch Abwege gesperrt und Verbote erlassen werden. Politische Gestaltung hat einen höheren Rang als die Logik des Marktes, der zwar die private Vernunft befeuert und für die bestmögliche Allokation der Mittel sorgen kann, aber in sich kein Organ für die gesellschaftliche Vernunft, für den Schutz der Natur und für Gerechtigkeit hat. Darum muss Politik Produktstandards setzen, Mengengrenzen für Verbrauchs- und Verschmutzungsrechte festlegen, Fördergelder in nachhaltige Wirtschaftsbereiche umlenken und die Kapitalmärkte kontrollieren. Wenn die Politik den Märkten die Ziele vorgibt, kann sie ihnen die Schritte zu den Zielen selbst überlassen. [vgl. ZD, Kap. 13]
Die Entwicklung des politischen Diskurses in den letzten drei Jahren ist durchaus beachtlich. Eine Vielzahl von kleinen und großen Netz- und Denkwerken hat sich in die Debatte über ein zukunftsfähiges Deutschland eingeklinkt und beteiligt sich an der Suche nach zukunftsfähigen Lebensstilen. Am 17. Januar tagte erstmals die Enquete-Kommission “Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität”. Sie hat den Auftrag in den nächsten zwei Jahren ganzheitliche Wohlstands- und Fortschrittsindikatoren zu entwickeln und konkrete Vorschläge für die nächste Wahlperiode zu erarbeiten. Die Arbeit dieser Kommission ist von hoher Bedeutung für die Entwicklung zukunftsfähiger, politischer Zielsetzungen. Ohne das starke zivilgesellschaftliche Engagement für einen solchen Diskurs wäre sie nicht zustande gekommen. Durch eine aufmerksame kritische Würdigung ihrer Arbeitsergebnisse, kann befördert werden, dass die Enquete tatsächlich Wegweiser für einen Kurswechsel im Mainstream der politischen Debatte errichtet.
VII Gut leben statt viel haben
„Gut leben statt viel haben“ war bereits in der Studie von 1996 ein Gedanke, der für viele Menschen, die sich in der Kirche engagieren, persönlich wichtig wurde. Die Entwicklung von zukunftsfähigen Lebensstilen beschreibt die kulturelle Erneuerung der Gesellschaft. Dabei geht es um die Wertschätzung von ökologischer und sozialer Qualität in der Herstellung von Gütern, um Achtsamkeit, aber auch um die Entwicklung von gemeinschaftlichen Prozessen. Die Strategie „Gemeinsam nutzen statt allein besitzen“ hat beispielsweise eine gewichtige soziale Komponente. Sie erfordert eine kooperative Haltung und die Bildung von lokalen Organisationsformen zur gemeinsamen Nutzung. In der Stärkung von sozialem Zusammenhalt und gemeinsamen Handlungsfeldern, liegt eine wesentliche gesellschaftliche Qualität. Die hohe Bedeutung, die materiellen Besitztümern in der Konsumgesellschaft zugeschrieben wird, kann in einer Gesellschaft, die das „viel haben“ überwunden hat, nichtmateriellen Werten zukommen. Unabhängigkeit von fremdgesteuerten Bedürfnissen und Zeit für Familie und Freunde sind dann die Größen, die für ein gutes Leben wichtiger werden. Letztendlich wird sich die Empfindung von Wohlstand dann weniger auf Gegenstände als auf Menschen gründen. [vgl. ZD, Kap. 20.4]
Achtsamkeit wird wesentlich mit einer klugen Mäßigung von Ansprüchen einhergehen. Doch Menschen brauchen positive Zukunftsszenarien, Vorstellungen davon, wie wir unsere Gesellschaft zum Besseren wandeln können. Deshalb sollte nicht der zu erduldende Verzicht im Vordergrund stehen. Motivierend sind die Gewinnmöglichkeiten, die auch in einem ökologischen Wohlstandsmodell zahlreich vorhanden sind. Wir können verzichten auf Städte, in denen es mehr Autos als Kinder gibt. Wir können verzichten auf verdreckte Luft und ungesunde Lebensmittel. Wir können verzichten auf lange Wege und Hektik. [vgl. ZD, Kap. 8.3]
Das übergeordnete Ziel ist es, die Naturressourcen so einsetzen, dass alle Menschen ein gutes Leben führen können. Wir müssen aufhören Natur zu verschwenden, sie also für Dinge zu verbrauchen, die uns weder zufriedener, noch gesünder machen. Die entscheidende Frage lautet: Was kann ich in meinem Leben ändern, das mich zufriedener macht und gleichzeitig meinen Naturverbrauch verkleinert?
Die frohe Botschaft ermöglicht uns eine positive, hoffnungsfrohe Perspektive. Die Notwendigkeit einen maßvollen Ressourcenverbrauch zu entwickeln, führt nicht zu Lebensfeindlichkeit oder zu einem freudlosen Befolgen der Gebote. Im Gegenteil: Auf dem Weg der Gerechtigkeit ist Leben! Jesus sagt: „Ich bin gekommen, damit sie das Leben in Fülle haben.“ (Joh. 10,10). Was bedeutet Leben in Fülle? Dies auszubuchstabieren ist eine wichtige Aufgabe der Kirche.
Bei Paulus heißt es: „Alles ist mir erlaubt, aber es soll mich nichts gefangen nehmen“. „Maß halten“, bietet auch die Chance sich von Dingen oder Gewohnheiten zu befreien, die einen gefangen nehmen. Es ist an uns, zu fragen: Woran hängt mein Herz? Was macht mich glücklich und erfüllt mein Leben? „Sparsam im Haben, aber großzügig im Sein, so lautet die Devise der Zukunftsfähigkeit für einen selbst wie für die Gesellschaft“ (S.570)
VIII Offene Kirche
Für unsere Diskussion sollten wir uns fragen, welchen Beitrag Kirche für eine gerechtigkeitsfähige Transformation der Gesellschaft leisten kann? Klar ist, dass sie selbst mit all ihren Einrichtungen ein mächtiger Akteur ist. Als Großnachfrager könnte sie beispielsweise der ökofairen Beschaffung einen gewaltigen Sprung nach vorn verschaffen. Mit kirchlichem Nachhaltigkeitsmanagement muss sie ihre eigenen Handlungsmöglichkeiten wahrnehmen. Nur so kann sie glaubwürdig bleiben und mit gelebter Nächstenliebe für Gerechtigkeit eintreten. Kirchliches Umweltmanagement ist ein wichtiger erster Schritt auf diesem Weg.
Kirche muss auch bei der Suche nach zukunftsfähigen Lebensstilen helfen. Die biblische Überlieferung ist voll von – Ihnen bekannten Anregungen – zu maßvollem Umgang mit der Natur und einer Ökonomie des Teilens. Diesen Schatz gilt es zu heben. Der Glaube an die Gerechtigkeit Gottes befreit zu solidarischem Handeln. Christlicher Glauben macht Mut und aktiviert.
Kirche muss ausbuchstabieren, was ein „Leben in Fülle“ bedeutet, an dem alle Menschen teilhaben können. Lassen Sie uns darüber diskutieren, was wir tun können. Und beim Diskutieren wollen wir nicht stehen bleiben. Lassen Sie uns weitermachen; die Impulse in die Gemeinden tragen und Veränderungen für Gerechtigkeit und Nachhaltigkeit selbst anstoßen.
Literatur:
BUND, Brot für die Welt, EED (Hg.) (2008): Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt – Ein Anstoß zur gesellschaftlichen Debatte. Frankfurt a.M.
(14,95 Euro im Buchhandel oder bei „Brot für die Welt“: vertrieb@diakonie.de, Art.Nr. 117302010)