Eine Woche Reise durch den Ost-Kongo, die Gewaltprovinzen Nord- und Südkivu, und ich möchte vergessen, was ich gehört und gesehen habe. Wie man das alles aushalten kann als Mensch, besonders als Frau, frage ich mich. Seit dem Ausbruch des Krieges in Ruanda 1994 und dem Übergreifen des Konflikts auf die Demokratische Republik Kongo, erleiden die Menschen hier Wellen immer neuer kriegerischer Gewalt mit wechselnden Akteuren und Drahtziehern – inländischen und ausländischen – die kaum einer kennt. Dörfer samt ihren Bewohnern, die nicht rechtzeitig fliehen konnten, werden niedergebrannt, Dorf- und Gemeinschaftsführer gezielt massakriert.
Seit 1998 wurden hier nach Angaben der Vereinten Nationen mehr als 5 Millionen Menschen Opfer der gewaltsamen Auseinandersetzungen, die meisten von ihnen Zivilisten. Ihr Tod ist direkte Folge des Krieges – durch Überfälle und gezielte Massaker – oder indirekte Folge. Denn Mütter sterben während der Geburt, weil der Gesundheitsposten zerstört und die Hebamme geflohen ist, und Kinder sterben an Unterernährung auf der Flucht in die Wälder.
Schwer nachzuvollziehen ist für alle, welche Machtkonstellationen gerade am Werk sind, und worum es im Einzelfall geht. Für die “großen Fische“ geht es letztlich immer um den Zugriff auf die unendlich reichen Ressourcen dieses Landes: Gold, Silber, Diamanten, Zinn, Coltan, Kupfer, Erdöl, Erdgas, Holz – um nur die wichtigsten zu nennen. Und für die “kleinen Fische“, die arbeitslosen Jugendlichen, die sich einer Rebellengruppe anschließen, oder für die Soldaten, die Monate lang keinen Lohn bekommen, geht es letztlich um den Zugriff auf die Alltagsressourcen der kleinen Leute: Ernten ohne zu säen, schlachten ohne zu mästen – das macht das Leben als Soldat oder Rebell attraktiv. Für die Bauern und Fischer ist nichts mehr sicher vor den marodierenden Rebellengruppen und dem Militär. Kein Halm auf dem Feld, keine Ziege im Stall, kein Honig im Bienenstock, keine Avocado auf dem Baum – alles, was die Menschen sich mühsam heranziehen, wird ihnen immer wieder genommen. Was lohnt es da noch zu ernten, zu säen, zu hegen, zu pflegen frage ich mich und überlege, ob ich nicht längst versucht hätte, auszuwandern. Bittere Armut, Hunger und Mangelernährung sind die Folgen für alle: Frauen und Männer, Kinder und Alte.
Gewalt an Frauen als Kriegswaffe
Als wäre all das nicht schlimm genug, wird den Frauen und Mädchen noch viel mehr geraubt: ihre körperliche und seelische Unversehrtheit, ihre Würde, ihr guter Ruf, ihr Ansehen im Dorf und ihre Ehe. Die ruandischen Hutu-Rebellen der FDLR (Forces Démocratiques de la Libération du Rwanda/ Demokratische Kräfte zur Befreiung Ruandas) führten im Ost-Kongo äußerst brutale Vergewaltigungen, meist Massenvergewaltigungen, als systematischen Teil der Kriegsführung ein. Inzwischen gehören Vergewaltigungen zum Alltagsgebaren des kongolesischen Militärs. Egal ob 11 oder 86 Jahre alt, keine Frau, die auf dem Weg zur Wasserstelle die Wälder durchquert,oder zur Bestellung ihres Feldes am Waldrand muß, ist davor sicher, denn der tropische Regenwald, der fast die Hälfte des drittgrößten Landes in Afrika bedeckt, ist das ideale Rückzugsgebiet für Rebellen und Soldaten.
Die betroffenen Frauen und Mädchen erleiden schwerste Verletzungen bis hin zu chronischer Krankheit, dauerhafter Behinderung oder einer HIV/Aids-Infektion. Einige sterben sogar an den Folgen der Vergewaltigung. Wird die Gewalttat entdeckt, muss das Opfer mit Stigmatisierung und Ausgrenzung rechnen. Viele der Frauen werden von ihrem Ehemann und der Dorfgemeinschaft verstoßen und leben daher oft in bitterer Armut. Was kann einer Frau denn noch passieren? Dass auch ihrer Tochter vor ihren Augen dasselbe Schicksal widerfährt? Das kommt nicht selten vor. Die betroffenen Frauen, die mir auf meiner Reise von ihren traumatischen Erlebnissen berichten, können es kaum ertragen, wenn eine von ihnen solche Details erzählt. Wie schwer solche Wunden heilen, wissen wir von den Frauen, die im Nachkriegsdeutschland Ähnliches erleiden mussten. Aber hier im Kongo ist das Ausmaß der Gewalt unfassbar: Sind es 60, 70 oder 80 Prozent aller Frauen, die solches Leid über sich ergehen lassen müssen? Keiner weiß es genau, doch die Auswirkungen sind erschütternd: Mehrere Generationen körperlich und seelisch verwundeter, entehrter Frauen blicken uns an. Mögen es Hunderttausende sein. Der Ost-Kongo gilt als der denkbar schlimmste Ort auf der Welt für Mädchen und Frauen.
Hinschauen statt verdrängen
Angesichts dieser unfassbaren menschlichen Dramen würde ich am liebsten einfach nur vergessen. Aber genau das ist das Problem: Im Ost-Kongo sehen wir eine der gegenwärtig größten Krisen der Welt. Eine von der Weltöffentlichkeit “vergessene“, besser “verdrängte“, Katastrophe – und das trotz hunderttausender Menschen, die ständig vor akut aufflammenden Gewaltherden fliehen müssen. 2009 war ein Viertel der Bevölkerung im Nord- und Süd-Kivu auf der Flucht, 1,5 Millionen intern Vertriebene sind es gegenwärtig im gesamten Ost-Kongo.
Vergessen wollen wir, weil unsere Seele nicht groß genug ist, um das Elend zu ertragen und unser Verstand dieses undurchsichtige Geflecht von Tätern, Opfern, Drahtziehern und weiteren Akteuren nicht durchdringen kann. Dass die Öffentlichkeit vergisst und verdrängt – genau das will die Regierung der DR Kongo. Letztes Jahr wurden die Flüchtlingslager geschlossen , die den Menschen immerhin Aufnahme, Sicherheit und Unterstützung boten – gesichert durch internationale Organisationen. Dies hat die Flüchtlinge aus dem Zuständigkeitsbereich des Staates und der Weltgemeinschaft hinaus gedrängt ins Ungewisse.
Nun sind sie im eigenen Land auf die Barmherzigkeit der verarmten Bevölkerung in den Dörfern angewiesen. Die flüchtenden Menschen hoffen auf Aufnahme, hoffen darauf, dass eine Familie ihre Ein-Raum-Hütte und ihre spärlichen Nahrungsrationen mit weiteren 5 bis 8 Personen teilt. Und tatsächlich: Viele Familien helfen. So werden die Millionen Vertriebenen trotz großer Not unsichtbar für die Weltöffentlichkeit. Die Lage sei stabil, das Land sicher, er habe alles im Griff, verkündet Präsident Kabila und möchte daher vor den Wahlen im nächsten Jahr die UN-Schutztruppe MONUC heim schicken. Der Abzug ist bereits eingeleitet.
Es gibt reichlich Gründe, die teure militärische Präsenz und wohl auch die Art des Auftretens der MONUC zu kritisieren. Denn Sicherheit und Schutz bot sie den Menschen in diesem Land bisher kaum, ebenso wenig wie der eigene Staat. Anstrengungen, die kongolesische Armee auszubilden und dem humanitären Völkerrecht Geltung zu verschaffen, müssten massiv verstärkt werden. Dennoch verhindert die bloße Anwesenheit der Schutztruppe vermutlich noch Schlimmeres. Würde sie abziehen, könnten die Rebellen und Regierungssoldaten die Zivilbevölkerung noch zügelloser vergewaltigen und ausbeuten, fürchten die Menschen, mit denen wir sprachen.
Augenzeugen der Gräueltaten sind nicht erwünscht. Hätte man sonst knapp vier Wochen vor den 50-Jahr-Feierlichkeiten zur Unabhängigkeit die “Stimme der Stimmlosen”, Floribert Chebaya, ermorden lassen? Chebaya war Gründer und Präsident der gleichnamigen stärksten Menschenrechtsorganisation des Landes. Kongolesische und internationale Menschenrechtsorganisationen befürchten, dass er von der Polizei erschossen worden ist und verlangen eine unabhängige Untersuchung.
Hinzuschauen gefährdet das eigene Wohlbefinden. Ich merke es: Mein Ohnmachtsgefühl regt mich ungeheuer auf. Man sehnt sich nach schnellen und endgültigen Lösungen dieses Konfliktes – aber es gibt sie nicht. Wenn ich an die unglaublich reichen natürlichen Ressourcen dieses Landes denke und an das große menschlichen Potential – so viele Kinder, die aus hellwachen, cleveren Augen in die Welt schauen – ist mir nicht bange um die Zukunft dieses Landes. Wenn, ja, wenn es seine Konflikte beenden könnte.
Hoffnung auf Neubeginn für ein geschundenes Land
Das Entwicklungspotenzial ist gewaltig. Ein Anschub, gezielte Hilfe zur Selbsthilfe, könnte nach Beendigung der Konflikte große Erfolge erzielen. Vielleicht nicht ganz rasche. Dazu ist das Land zu heruntergewirtschaftet, die Analphabetenrate in Nord-Kivu mit vermuteten 60 Prozent (Frauen 73 Prozent) zu hoch, die Gesundheitsversorgung zu mangelhaft – die Lebenserwartung beträgt nur 48 Jahre.
Schon die belgische Kolonialmachtwar ein Terrorregime, das das Land ausplünderte und Bauern öffentlich verstümmelte, die die festgesetzte Sammelquote für Kautschuk nicht erreichten. Danach hat der Diktator Mobutu mit Unterstützung westlicher Regierungen das Land korrumpiert, in Rekordverschuldung geführt und staatliche Grunddienste zerfallen lassen. Dieser Staat hat sich zu lange nicht um seine Bürger gekümmert, ist für sein Volk nicht existent. Vor allem aber: Nachhaltige Entwicklung ist den Menschen im Ost-Kongo im Moment noch weitgehend verwehrt. Die Profitinteressen von in- und ausländischen Rebellengruppen, Militärs, Polizei, kriminellen Banden, internationalen Rohstoff- und Waffenhändlern stehen dagegen, die alle ihren Teil des reichhaltigen Kuchens, ihre Dollarernte, mit Gewalt verteidigen oder gar vergrößern wollen. Chaotische Verhältnisse sind gut für ihre Geschäfte.
Noch gilt es also, die Ohnmacht der Menschen mit ihnen auszuhalten, sie für sie aushaltbarer zu machen. Ihnen beizustehen in einer Phase, in der sie – nach allgemeiner Definition – nicht ‚selbsthilfefähig‘, das heißt abhängig von humanitärer Hilfeleistung, sind. Richtig ist: Die Menschen haben keine Chancen zu zeigen, was in ihnen steckt, denn es wird ihnen ständig alles genommen. Aber: Organisieren sie nicht unter unsäglichen Umständen täglich neu ihr Überleben, helfen die Dorfbewohner nicht aufopfernd den Flüchtlingen? Und das in einer Weise, die mir größte Bewunderung abringt: Wer von uns kämpft so zäh jeden Tag um sein Recht auf Leben? Wer von uns teilt so existenziell? Nicht ‚selbsthilfefähig‘ heißt nur: Ihre Mühe ist aufgrund der Umstände häufig vergebens. Die Menschen im Ost-Kongo sind gegenwärtig – entgegen aller staatlichen Propaganda – noch massiv auf unsere humanitäre Hilfe angewiesen um zu überleben. Sehen wir hin!
Projekte der Diakonie Katastrophenhilfe sichern Überleben
Denn: Trotz schwierigster Bedingungen hat die Diakonie Katastrophenhilfe vor rund zehn Jahren begonnen, den Menschen im Kongo beizustehen. Die Flüchtlinge und die aufnehmenden Familien erhalten Nahrungsmittel und weitere lebenswichtige Hilfsgüter, wie Moskitonetze, Decken, Kleidung, Kochgeschirr und Hygieneartikel. So wird die schlimmste Not gelindert und das Überleben der Menschen gesichert. 4.000 besonders bedürftigen Familien – das sind 20.000 Menschen – wird allein durch das aktuelle Projekt in Kamandi Gite und Kikuvo in Nord-Kivu geholfen. Da Hunderttausende auf der Flucht sind, ist der Bedarf allerdings wesentlich größer.
Opfer sexueller Gewalt erhalten in lokalen Gesundheitsstationen medizinische und psychosoziale Unterstützung. Dazu werden zurzeit zehn Gesundheitsstationen auf dem Land mit Basismedikamenten und Verbrauchsmaterial ausgestattet. Im vergangenen Jahr wurden je 20 Sozialarbeitende und Pflegekräfte im Umgang mit Vergewaltigungsopfern geschult. Dieses Jahr werden nun Mitarbeitende der Polizei- und Justizbehörden fortgebildet, da Vergewaltigung noch immer nicht als Verbrechen begriffen wird. Die lokale Partnerorganisation der Diakonie Katastrophenhilfe klärt zudem die Bevölkerung bei Veranstaltungen, mit Flugblättern und Radiospots über sexuelle Gewalt auf, um Verständnis für die Situation der Opfer zu wecken und der gesellschaftlichen Ausgrenzung entgegenzuwirken. Gleichzeitig informieren sie dabei über medizinische und psychologische Hilfsangebote, wie beispielsweise örtliche Selbsthilfegruppen.
Neben der Nothilfe und der Hilfe für Opfer sexueller Gewalt spielt bei den Maßnahmen der Diakonie Katastrophenhilfe auch die Ernährungssicherung eine wichtige Rolle. Ziel ist, dass sich die Menschen wieder selbst versorgen können und Mangelernährung, besonders bei Kindern, vorgebeugt wird. Rund 20.000 Familien in Nord-Kivu erhalten dazu landwirtschaftliches Gerät und Saatgut. Da die meisten nach langen Vertreibungsgeschichten und Krieg kaum mehr Erfahrung in der Landwirtschaft haben, lernen sie auf Übungsfeldern nachhaltige Anbaumethoden . Zusätzlich werden 50 landwirtschaftliche Beratungskräfte ausgebildet, die ihr Wissen weitergeben. So können die Familien nahrhaftes Gemüse und Hülsenfrüchte ernten, die schnell genug wachsen zwischen den Vertreibungen, Auch lernen sie Methoden des Anbaus und der Viehhaltung und Fischzucht, die Den Rebellen und Militärs den allzuleichten Zugriff erschweren und sicher stellen sollen, dass genug zur Ernährung der Bevölkerung bleibt.
Für tausende von Menschen eröffnet sich durch die Hilfe eine neue Perspektive – sie spüren, dass sie von der Öffentlichkeit eben nicht verlassen und vergessen sind.
Ost-Kongo: Die Ärmsten gemeinsam unterstützen
Nord- und Süd-Kivu und in Gebieten wie Ituri und Haut-Uélé gehen die gewaltsamen Konflikte aber weiter und fordern täglich immer noch unzählige Menschenleben. Die Menschen in diesen Gebieten brauchen jetzt unsere Hilfe. Der Krieg trifft sie so schuldlos wie die Menschen in Haiti das Erdbeben. Ihnen heute zu helfen heißt, den Frieden von morgen zu bauen.
Vielleicht haben wir uns viel vorgenommen, als wir in unserer bindenden Grundsatzerklärung formulierten „Kirchliche Katastrophenhilfe braucht einen langen Atem“. Wir begleiten die Menschen im Notgebiet solange sie Schutz und Hilfe benötigen – auch dann und gerade dort, wo besondere Notsituationen sind, wo Katastrophenfälle in Vergessenheit geraten sind oder gar nicht von der Öffentlichkeit wahrgenommen werden. Weil die Menschen dort sonst von der Welt verlassen wären, wenn auch sicher nicht von Gott. Er weist uns den Weg zu den besonders Gedemütigten, Ausgestoßenen, Verlassenen, denen wie Abrahams Magd Sarah ohne Beistand der Lebensmut auszugehen droht. Er bleibt bei ihnen in ihrer Not, macht ihnen Mut und gibt ihnen Kraft. Helfen wir gemeinsam. Wenn auch wir bei ihnen ausharren und bei allen Rückschlägen doch immer noch genug Gutes tun können, um diesen Menschen Überlebensperspektiven zu geben, zählt das mindestens genauso viel wie beeindruckende Zahlen erfolgreicher Entwicklungsprojekte!
Zum ersten Mal in meiner bald elfjährigen Amtszeit habe ich auf einer Dienstreise ohne vorherige Rücksprache mit dem zuständigen Stab, ohne Rücksicht auf unsere zu Ende gehenden Mittel Menschen eine Zusage gemacht. Einer Gruppe von 150 schwer vergewaltigten Frauen, die – von Gesellschaft und Ehemännern verstoßen – ohne Heimat, Familie und Einkommenschance für sich und ihre Kinder sind, habe ich versprochen, dass die Diakonie Katastrophenhilfe sie nicht im Stich lässt.
In meinem Herzen galt diese Hilfszusage allen leidenden Frauen und mangelernährten Kindern im Kongo. Bitte helfen Sie mir dabei, dieses Versprechen jetzt rasch zu realisieren. Lassen wir diese Menschen nicht allein. Ich danke Ihnen sehr!
Mit freundlichen Grüßen
Pfn. C.Füllkrug-Weitzel MA
17.7.2010