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Humanitarismus in der Krise: Macht und Ohnmacht der Hilfe

Medico-Konferenz 28.-29. März 2003:
Hilfe – eine Geißel der Außen- und Sicherheitspolitik ?

 So verlockend es auch in der jetzigen Situation wäre, möchte ich das Thema nicht unter das Motto „Anklage böser Mächte“ stellen, sondern als kritische Selbstschau der humanitären Hilfsorganisationen behandeln. Lassen Sie mich mit einer zentralen Aussage des Code of Conduct beginnen, dem sich alle wichtigen zivilen und kirchlichen humanitären Organisationen verpflichtet haben:

 „Wir werden darauf achten, dass wir nicht zum Instrument der Außenpolitik von Regierungen werden..(wir) sind Organisationen, die unabhängig von Regierungen handeln. Deshalb formulieren wir unsere eigenen Vorgehens- und Durchführungsstrategien. Wir haben nicht die Absicht, Regierungspolitik umzusetzen…ebenso wenig werden wir uns zu Handlangern für die Außenpolitik der Geberegierungen machen.“

Ziel dieser Selbstverpflichtung soll die Erfüllung des humanitären Imperativs sein: d.h. humanitäre Hilfe ohne jegliche Ausgrenzung allein nach dem Gewicht der Not und dem Grad der Bedürftigkeit zu leisten und bewusst HH nicht als parteiischen oder politischen Akt zu verstehen. Nun steht dieses hehre Prinzip diametral zum provokativen Titel dieser Runde: „Hilfe – eine Geißel der Außen- und Sicherheitspolitik ?“ und wirft Fragen auf:

 Aber zunächst generell: zur Geißel und zum Spielball der Politik wird man dann,

  • wenn man sich als abhängiger, machtloser Gefangener sieht, der sich der Politik und ihren Regeln unterwerfen muss;

  • wenn man nicht weiß, an welchem politischen Spiel man beteiligt ist, welche Rolle man darin einnimmt und welche Wirkung man hat oder haben kann;

  • d.h. letztlich wenn man passiv und unwissend bleibt und nur reagiert, anstatt wissend und pro-aktiv zu handeln.

  1. Wir haben gerade aus der jüngeren Entwicklung gelernt – und dabei haben wir schmerzhaft einige Wunschvorstellungen begraben müssen -, dass von unserer bzw. westlichen Regierungen und den großen Medien in solchen Konflikten, in denen man massive Interessen verfolgt und politisch-militärisch-kriegerisch intervenieren will, das ethische, humanitäre Argument immer stärker als politisch-ethische Rechtfertigung eingesetzt und die Humanitäre Hilfe immer enger in die politische Kriegs- und Nachkriegsstrategie ein- und untergeordnet wird – sozusagen als öffentlichkeitswirksame und den schmerzhaften Krieg mildernde humanitäre Unterkomponente. Überspitzt hat Jens Jessen kürzlich in der ZEIT1 dies mit der Arbeitsteilung zwischen Chirurg und assistierender Schwester verglichen. Der erste schneidet das böse Krebsgeschwür heraus, die Schwester sorgt dafür, dass die notwendige Wunde nicht zu sehr blutet.

Ich meine, die Politik zieht in solchen Konflikten die zivilen humanitären Hilfsorganisationen zunehmend in die Rolle effizienter humanitärer „Dienstleister“, die sich nicht nur der großen politischen Logik beugen, nein, in der konkreten Planung mit klaren Orientierungen eingebaut sind. Dass diese Art von Zusammenarbeit nicht nur über Argumente zustande kommt, sondern über Konkurrenz und Zugang zu öffentlichen Mitteln, Gunst- bzw. Ungunstbeweise der großen Medien, und damit des davon abhängigen Spendenmarktes, sowie über eine ganze Palette von sonstigen Druckmitteln, aber auch lockenden Schutz- und Kooperationsangeboten beeinflusst wird, haben viele erfahren können. Wohlgemerkt: dies ist keine moralische Wehklage gegenüber der Politik und ihren Absichten, sondern ein Versuch, die realen Verhältnisse und unsere Schwächen zu beschreiben.

Erste Frage: Sind wir zu solcher Machtlosigkeit verurteilt, müssen wir uns letztlich mit der Rolle als eingebundene und politisch abhängige humanitäre Organisationen abfinden? Oder sind wir in der Lage, gemeinsam Gegengewichte zu setzen und Strategien zu entwickeln, die uns mehr Spielraum geben, nicht nur im deutschen, sondern im internationalen Rahmen?

  1. Ich möchte mit der kritischen Selbstschau weiterfahren. Die Entwicklung hat ebenfalls gezeigt, dass unser humanitäres Credo „HH nicht als parteiischen oder politischen Akt zu verstehen“ nicht davor geschützt hat, dass in vielen Gewaltkonflikten/Kriegen die HH der zivilen Hilfsorganisationen handfeste politische Auswirkungen hatte und politische Zeichen setzte. Viele erinnern sich an die Vorwürfe aus Politik und Medien, mit unserer HH würden machtgierige lokale Warlords und Potentaten alimentiert und damit sinnlose lokale Kriege verlängert. Aus den USA kam das Konzept „Do no harm“2, wohlgemerkt als Handlungsanleitung für humanitäre Organisationen, um durch gezieltere Hilfe zu friedlicher Lösung beizutragen. Als Wechselbad erleben wir nun seit dem Kosovokrieg, spätestens nach dem 11. September, wie westliche Politik in solchen Konflikten nun eine globale Herausforderung sieht und die kriegerische Intervention als ethische Lösung fordert samt aktiver Parteinahme der Hilfsorganisationen. Und dasselbe erlebt die betroffene Bevölkerung: wie humanitäre Organisationen ihr Personal und Hilfsleistungen vor der drohenden militärischen Intervention abziehen und nach erfolgreicher Intervention wieder unter dem Schutz, ja sogar im direkten Tross des siegreichen Militärs zurückkehren. Gewollt oder ungewollt, haben auch hier humanitäre Organisationen klare politische Signale gesetzt und Wirkung gehabt.

Zweite Frage: Wenn es deutlich wird, dass Hilfsorganisationen durch ihre Aktion bzw. Nichtaktion in Konflikten auch politische Wirkungen haben – gegenüber der betroffenen Bevölkerung, gegenüber den lokalen Konfliktparteien und der internationalen Politik, soll das verschwiegen bleiben oder benannt und bewertet werden? Wenn ja, nach welchen ethischen Grundsätzen?

  1. Das führt mich direkt zum letzten Punkt: Wir kämpfen in diesen Konflikten und Kriegen um den politikfreien neutralen humanitären Raum, den es offenbar in den letzten großen Konflikten immer weniger oder gar nicht mehr gibt, wenn man Bob Woodwards Internas aus seinem jüngsten Buch über die amerikanische Kriegsführung in Afghanistan3 Glauben schenkt oder die aktuellen humanitäre Planung des US-Militärs für den Irak verfolgt. Aber gibt es denn diesen neutralen Raum in unseren humanitären Organisationen? Ist es nicht vielmehr so, dass auch unser humanitäres Engagement durch eine Bandbreite christlich-religiöser, politischer oder sozialer Überzeugungen mitgeprägt ist, die bewusst/ unbewusst in die humanitären Bewertungen und Aktionen einfließen und eingeflossen sind? Ich spreche von Themen wie Parteinahme für die Bedürftigsten, Frieden versus Krieg und Gewalt, religiöser/ethnischer Ausgleich und Versöhnung versus Hass, soziale Gerechtigkeit, Menschenrechten, Demokratie versus Diktatur, und nicht zuletzt christlicher Nächstenliebe, ethische Wurzel für viele moderne humanitäre, pazifistische, soziale und politische Überzeugungen. Als christliches humanitäres Hilfswerk fällt es uns wahrscheinlich leichter, unser humanitäres Engagement ohne größeres Kopfzerbrechen mit anderen ethischen Grundsätzen zu verbinden: auch als Schutz und Immunisierung gegenüber den Einflüssen und dem Druck einer zweckorientierten und wechselhaften Ethik in der Politik.

Dritte Frage, dieich auf das aktuelle Kriegsszenario beziehe: sollten wir neben unserem humanitären Appell in Zukunft nicht auch ein klares Friedens- und Versöhnungscredo in unserer Öffentlichkeitsarbeit, gegenüber der Politik und in unseren Hilfsprogrammen vertreten

  • Sollten wir öffentliche Mittel annehmen, wenn die staatliche Seite keine ernsthafte Friedenspolitik betreibt?

  • Sollten wir uns zusammen mit anderen für friedliche Konfliktlösung und gegen die zunehmende militärische Bedrohung der Zivilbevölkerung einsetzen?

  • Muss heute zur Kriegsprävention – nach unseren Kampagnen zur Ächtung von Kleinwaffen und Landminen – nicht auch wieder eine globale Lösung für das weltweite Potential an ABC- und konventionellen Massenvernichtungswaffen suchen, das die zivile Menschheit bedroht?

Sie sehen, wir stellen uns und Ihnen ernsthafte, ja provozierende Fragen und haben selbst darauf noch keine fertigen und schlüssigen Antworten. Aber angesichts des sich ausweitenden und eskalierenden Kriegs- und Konfliktdramas, das sich vor unseren Augen abspielt und die Zukunft beherrschen wird, müssen wir uns heute mehr denn je der Debatte über die Rolle und der humanitären Hilfe und der Hilfsorganisationen stellen. Und es treibt uns dabei ein tiefe ethische Grundverantwortung, nämlich nicht durch unsere „humanitäre Unschuld“ zu Mitschuldigen zu werden.

1 DIE ZEIT 11/2003: Jens Jessen: Humanitäre Rüstung

2 Mary B. Anderson: Do no harm. How Aid can support peace – or war. Boulder/Colorado: 1999.

3 Bob Woodward: Bush at war. Hamburg: 2002