Pfarrerin Cornelia Füllkrug-Weitzel, Direktorin von „Brot für die Welt“
Hunger ist kein Schicksal, sondern menschengemacht. Diese Überzeugung ist eine der wichtigsten analytischen Grundlagen der Arbeit von „Brot für die Welt“: Hunger ist menschengemacht, und darum handelt es sich dabei um einen prinzipiell veränderbaren Zustand. Und genau dies zeigen die Erfahrungen unserer Partner in den Ländern des Südens: Wenn Bauern und Bäuerinnen vor Ort nachhaltige Landwirtschaft betreiben, wenn gute wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen herrschen und wenn wir im Norden auch unseren Teil beitragen, dann kann die Zahl der Hungernden reduziert werden.
Auch wenn heute weltweit 925 Millionen Menschen hungern und die Zahl der Hungernden nicht essentiell zurückgeht, auch wenn es immer wieder zu Hungerkatastrophen kommt wie jetzt in Ostafrika, auch wenn die Politik versagt und Wirtschaftsinteressen zu stark dominieren – Hunger ist kein unabänderliches Schicksal! „Brot für die Welt“ behauptet vielmehr: „Es ist genug für alle da“. Denn die Landwirtschaft könnte im derzeitigen Entwicklungsstand ihrer Produktivkräfte zwölf Milliarden Menschen ernähren. Deswegen ist auch Skepsis angebracht gegenüber den Forderungen nach einer Steigerung der weltweiten Produktion mit allen zur Verfügung stehenden Technologien, insbesondere der risikobehafteten Grünen Gentechnik.
Die wichtigste Ursache für Hunger und Unterernährung ist der mangelnde Zugang der Menschen zu Nahrung. Dies bezieht sich sowohl auf die Möglichkeit, selbst Nahrung zu produzieren als auch auf die nötige Kaufkraft, um Nahrung kaufen zu können. Knapp 80 Prozent aller Hungernden leben derzeit auf dem Land. Die Hälfte aller Hungernden leben in kleinbäuerlichen Familien. Obwohl diese Familien als Bauern leben, können sie sich von den vorhandenen Ressourcen nicht ausreichend ernähren. Entweder ist das verfügbare Land zu klein oder die Höfe liegen in Regionen, die nur schlecht für die Landwirtschaft geeignet sind. Oft sind auch die Landtitel nicht abgesichert oder die Bauernfamilien – gerade wenn sie von Frauen angeführt werden – verfügen über keinen (ausreichenden) Zugang zu Krediten und Saatgut. Häufig fehlt es auch an Transportmöglichkeiten und Infrastruktur für die Vermarktung. Diese kleinbäuerlichen Familien sind zudem hochgradig anfällig gegenüber externen Risiken und Schocks, wie z.B. Wetterunregelmäßigkeiten, verursacht durch den Klimawandel. Und sie haben nicht die erforderlichen Kapazitäten, Anpassungen der Landwirtschaft vorzunehmen, um die Folgen des Klimawandels zu bewältigen. 22 Prozent der Hungernden und Unterernährten gehören zu Familien, die ohne jeden Zugang zu Land sind und sich meist als Landarbeiter verdingen. Weitere acht Prozent der Hungernden sind Personen, die als Nomaden, von der Fischerei oder der Nutzung von Wäldern leben.
Die steigende Nachfrage nach Agrarprodukten wirkt sich zusätzlich negativ auf die Verfügbarkeit von Nahrungsmitteln aus. Mehr Agrarprodukte werden benötigt, weil Bevölkerung und Einkommen in den Industrie- und Schwellenländern wachsen. Dadurch nehmen Nutzungskonflikte um Land und Wasser in Entwicklungsländern zu. Insbesondere die hohe Nachfrage nach Milch- und Fleischprodukten sorgt dafür, dass immer mehr Flächen für den Anbau von Futtermitteln verwendet werden. Land wird heute überdies aber auch deswegen knapp, weil die Nachfrage nach Agrarprodukten für die Biodiesel- und Ethanolproduktion wächst. Zudem kaufen oder pachten viele Staaten, Konzerne und Investoren in Entwicklungsländern Land, um dort Nahrungsmittel für die eigene Bevölkerung anzubauen. Durch dieses „Landgrabbing“ gingen in den Entwicklungsländern allein im letzten Jahr 30 Millionen Hektar Ackerland für die einheimische Bevölkerung verloren.
Steigende Nahrungsmittelpreise können Hungerkatastrophen verursachen. Aber nicht immer sind tatsächliche Knappheiten für steigende Preise verantwortlich, sondern mehr und mehr bestimmt die Spekulation auf den Rohstoffmärkten die Agrarpreise. Hinzu kommt, dass durch die politisch gewollte Liberalisierung viele Länder ihre Märkte geöffnet haben, subventionierte billige Grundnahrungsmittel aus den USA und der EU eingekauft haben und dadurch den Aufbau einer eignen rentablen Agrarproduktion vernachlässigt haben.
Ernährung und Bildung sind eng miteinander verbunden: Mangel- und Unterernährung behindern lebenslang die persönliche Entwicklung. Schüler, die schon als Kleinkinder hungerten, lernen schlecht und können auch als Erwachsene kaum der Armut entfliehen. Oft sind Schulen die einzigen Orte, wo Kinder regelmäßig eine Mahlzeit bekommen. Andererseits ist Bildung für die Entwicklung der Landwirtschaft von hervorragender Bedeutung. Neben der Einrichtung von praxisorientierten Landwirtschaftsschulen heißt dies vor allem Erfahrungsaustausch und das Lernen über Grenzen hinweg. Globales Lernen wird konkret, wenn „Brot für die Welt“ beispielsweise den Besuch von kenianischen Bäuerinnen bei Bäuerinnen in Indien fördert, damit sie sich über Fragen von Saatgut und nachhaltiger Landwirtschaft austauschen können.
Angesichts der vielfältigen Herausforderungen für die Hungerbekämpfung muss ein Bündel an Maßnahmen ergriffen werden, damit das Recht auf Nahrung Wirklichkeit wird. Es braucht eine verantwortliche Agrarpolitik. Mehr Ressourcen für die Förderung einer nachhaltigen Landwirtschaft und der ländlichen Räume machen aber nur dann Sinn, wenn
- dafür insbesondere Personengruppen in den Blick genommen werden, die sich nicht mehr selber helfen können, wie soziale Schwache oder HIV-AIDS-Kranke. Für ihre Überlebenssicherung sind soziale Grundsicherungsprogramme und in Krisenregionen auch Nahrungsmittelhilfe notwendig;
- der Zugang zu fruchtbarem Ackerland und Wasser für die Kleinproduzenten in den Entwicklungsländern gesichert ist. Ihre Produktionsbasis muss verbessert werden, damit ihre Länder sich weitgehend selber mit Grundnahrungsmitteln versorgen können und ihre Abhängigkeit vom Weltmarkt reduziert wird;
- die Staaten selber Verantwortung übernehmen. Über 160 Staaten haben sich verpflichtet, das Recht auf Nahrung umzusetzen .Sie sollten eine nationale Agrar- und Wirtschaftspolitik entwickeln, die primär die Bedürfnisse der Hungernden in ihrem Land in den Mittelpunkt stellt;
- eine globale Welternährungspolitik greift, um die strukturellen Ursachen des Hungers zu beseitigen. Dazu gehören Regelungen zur Spekulation und zum „Landgrabbing“. Aber auch die EU-Agrarpolitik und der Agrarhandel sollten die Entwicklungsländer nicht benachteiligen.
All dies kann nur funktionieren, wenn Agrar- Klima-, Finanz- und Wirtschaftspolitik aufeinander abgestimmt sind. Und wenn wir als Verbraucher unseren Lebensstil ändern, damit übermäßiger Konsum von Nahrung und Energie oder gedankenloses Verschwenden von Nahrungsmitteln nicht dazu beiträgt, dass in den armen Ländern oft nicht genug für alle da ist.