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Frauen als Akteurinnen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung

Globale Akteure der Entwicklung – die neuen Szenarien, hg. Von Hans-Norbert Janowski und Theo Leuenberger, VS-Verlag für Sozialwissenschaft, Mai 2008 Cornelia Füllkrug-Weitzel

Frauen als Akteurinnen wirtschaftlicher und sozialer Entwicklung

Lernerfahrungen bei „Brot für die Welt“

Inhalt:

Widersprüchliche Bilanz
Ökumenische Dekade „Solidarität der Kirchen mit den Frauen“
Lernerfahrungen bei „Brot für die Welt“ zum Thema Gleichstellung
„Den Armen Gerechtigkeit“
Entwurf einer Gender-Strategie
Der Genderansatz erhöht die Sichtbarkeit von Frauen
Fazit

Die Welt sieht sich heute vor zahlreiche Herausforderungen gestellt, die nicht mehr an na­tionalen Grenzen Halt machen. Armut und Hunger, die Dis­kriminie­rung von Frauen, Um­welt­­ver­schmut­­zung, Klimawandel, Kriege, Terroris­mus, Epidemien – all dies sind globale Probleme, die eng miteinander verflochten sind und weit reichende Fol­gen nach sich ziehen. Um diesen Herausforderungen gleichzeitig zu begegnen, haben die Vereinten Nationen zur Jahrtausendwende mit der Mil­len­niums­erklärung acht zusammenhängende Ziele für die Armutsbekämpfung for­muliert.

 

Das dritte dieser Millenniums-Entwicklungs-Ziele (MDGs), die Gleichstellung der Geschlechter und die Stärkung der Rolle der Frauen, ist von übergreifender Bedeutung für die gesamte Millenniums-Agenda. Denn die Verbesserung des gesellschaftlichen Status von Frauen trägt nachweislich zur Minderung der Armut bei; sie wirkt sich positiv auch auf sämtliche andere, in der Millenniums-­Er­klä­rung aufgeführten Ziele aus. Die Beseitigung von Gen­der-Dispa­ri­täten, die Aufhebung bestehender Machtgefälle zwischen Män­nern und Frauen trägt, – so das Ergebnis verschiedener UN-Studien -, entscheidend dazu bei, struk­turelle Ursachen für soziale und politische Instabilität zu überwinden, inner­ge­sell­­schaftliche Konflikte zu vermeiden und so Armut effektiver zu bekämpfen.

 

Die Stärkung der Rechte von Frauen, ihrer Verhandlungsposition und die Sicherung ihres Zugangs zu Ressourcen haben armutsmindernde Auswirkungen für einzelne Haus­halte wie auch für die Gesamtwirtschaft. Wo Frauen Nutzungs- und Verfügungsrechte über wich­tige Ressourcen haben, verbessert dies nicht nur ihre eigene Lage. Vielmehr profitiert in der Folge meist die gesamte Familie von einer besseren Ernährung, Bildung und Gesundheitsvorsorge. Auch trägt die stärkere politische Teilhabe von Frauen zu einer armutsorientierten Verwendung öffentlicher Mittel bei. Daher ist es ein Gebot entwicklungs­politi­scher Vernunft, weltweit bewusste Anstrengungen in Richtung auf die Gleichstellung der Geschlechter zu unter­neh­men. Ganz abgesehen davon zielen die Menschenrechte auf die Überwindung der Ungleichheiten zwischen den Geschlechtern.

Zugang zu Bildung ist eine entscheidende Voraussetzung dafür, dass Frauen zu gleichberechtigten Akteurinnen der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung werden können. Ein höherer Bildungsstand von Mädchen und Frauen trägt maßgeblich zur Verbes­serung aller anderen Ent­wick­lungs­aspekte bei – angefangen von wirtschaft­lichen und Be­schäf­tigungschancen über Gesundheits­aspekte bis hin zur nachhaltigen Nutzung na­tür­licher Ressourcen.
Widersprüchliche Bilanz
Die internationale Bilanz zur Gleichstellung und damit zur Situation von Frauen als Handelnde für die wirtschaftliche und soziale Entwicklung fällt bis heute widersprüch­lich aus. Zweifellos wurden gewisse Fortschritte erzielt, doch viele Ungleichheiten bestehen weiter. In vielen Ländern des Südens wurden in den letzten Jahren ge­setz­liche Maßnahmen zum Schutz von Frauen getroffen. Vergewaltigung in der Ehe wurde in mehreren Ländern, darunter Nepal, Zimbabwe und Chile, für straf­bar erklärt. In einer Reihe von afrikanischen Ländern wurden Gesetze gegen die Genitalverstümmelung von Mädchen verabschiedet. In Jordanien können “Ehren­mor­de” heute strafrechtlich verfolgt werden. Allerdings bedeutet dies nach bisherigen Erfahrungen nicht automatisch, dass diese Rechte auch eingeklagt und verwirklicht werden.

 

Frauen besitzen nur rund ein Prozent des globalen Vermögens. Sie leisten heute mehr Erwerbsarbeit als früher, sind aber meist in prekären, schlecht bezahlten und unsicheren Jobs beschäftigt. Mehr Frauen sitzen heute in Parlamenten, doch nur selten in politi­schen Machtpositionen. Kindersterblichkeit und Müttersterblichkeit sind in vielen Ländern immer noch sehr hoch. Frauenarmut und Gewalt gegen Frauen konnten nicht reduziert werden. Der Anteil von Frauen bei Menschen in extremer Armut beträgt weltweit 70 Prozent. Frauen in Afrika sind einem besonders hohen HIV/AIDS-Risiko ausgesetzt und von HIV/AIDS inzwischen stärker betroffen als Männer. Bei mehr als 76 Prozent der 15- bis 24-jährigen HIV-Infizierten handelt es sich um Frauen. Dabei leben 77 Prozent der HIV-positiven Frauen im südlichen Afrika. Während vor zehn Jahren zwölf Prozent der Aids-Kranken Frauen waren, sind es heute über 60 Prozent. Frauen entscheiden immer noch nicht autonom über ihren Körper und ihr Leben. Weltweit wurden 130 Millionen Mädchen und Frauen Opfer von Genitalverstüm­melung, jährlich kommen zwei Millionen Opfer hinzu.

 

Neue Problemlagen sind entstanden, so die zunehmende Migration von Frauen, der internationale Frauenhandel und die sich ausbreitende Militarisierung. Frauen sind besonders von Konflikt- und Kriegssituationen betroffen, wodurch ihre Möglichkeiten, als soziale und wirtschaftliche Akteurinnen aufzutreten, erheblich eingeschränkt werden. Manche Problemlagen werden zusätzlich bewusster. Dazu gehört, dass Frauen im Maße zunehmender ökonomischer Perspektivlosigkeit der Familien und Gemeinschaften Opfer von häuslicher, innerfamiliärer Gewalt werden, wodurch den betroffenen Familien und der Gesellschaft große ökonomische Einbußen entstehen und Entwicklungsfortschritte untergraben werden.

Ökumenische Dekade „Solidarität der Kirchen mit den Frauen“
Nachdem die UN-Frauendekade (1975-1985) die Anliegen von Frauen in der Kirche kaum berührt hatte1, rief der Ökumenische Rat der Kirchen (ÖRK) von 1988 bis 1998 eine Dekade „Solidarität der Kirchen mit den Frauen“ aus. Diese ökumenische Dekade sollte die Kirchen befähigen, unter­drücke­rische Strukturen in Frage zu stellen, sich selbst von Rassismus, Sexismus und Klassendenken zu befreien und Gleichberechtigung von Männern und Frauen in den Kirchen sowie Frauen in Führungspositionen zu befördern.

 

Von der Dekade wirkten zahlreiche Impulse in die nationalen Kirchen hinein, themati­sche Team-Visits in allen Teilen der Welt griffen heikle Themen auf, so Gewalt gegen Frauen in den Kirchen selbst. In Deutschland wurde zum Ende der Dekade beispielsweise gefordert, weithin tabuisierte Themen wie häusliche Gewalt, Gewalt gegen Frauen, Rassismus, in den Kirchen diskriminierte Lebensformen wie Geschieden-Wiederverheiratete, alleinerziehende, lesbische Frauen, fehlende Teilhabe an Diensten und Ämtern und die wirtschaftliche Situation von Frauen in den Kirchen „nicht nur zu besprechen, sondern zu bearbeiten.“2

 

Die Synode der EKD hatte 1986 zum Thema „Entwicklungsdienst als Herausforde­rung und Chance für die Evangeli­sche Kirche in Deutschland und ihrer Werke“ festgestellt, dass sich die Probleme im Süden verschärft haben, insbesondere habe sich die Situation der Frauen in Entwicklungs­ländern erschreckend verschlechtert. Die Synode forderte eine stärkere Berücksichtigung der Frauen im Entwicklungsprozess.3

 

Mit ihrer Tagung zum Thema „Die Rolle der Frau im Entwicklungsprozess“ im Mai1989 nutzte die EKD-Kammer für Kirchlichen Entwicklungsdienst dann den Schub der ÖRK-Dekade: Die Teilnehmenden, unter ihnen auch drei Frauen aus dem Süden, forderten spezi­fische Frauenprojekte. Eine gemeinschaftliche Neudefinition eines gerechten Gesell­schaftsmodells für Frauen und Männer war der Anspruch. Weil Frauen in den offi­ziellen Trä­gerstrukturen oft nicht sichtbar waren und ihr Lebensbereich meist stark informell organisiert war, „ist eine sehr viel größere Flexibilität der Instrumente not­wen­dig. Grundsätzlich ist die Förderung von Prozessen wichtiger als die Förderung von Projekten.“Folglich empfahl die Kammer den Gremien der Arbeitsgemeinschaft Kirchlicher Entwicklungsdienst (AG KED) ein Schwer­punkt­pro­gramm „Frauen und Entwicklung“, eine verbindliche Prüfung der Berück­sich­­ti­gung von Frauen bei allen Projektanträgen und die Übernahme des Frauenreferates der AG KED als unbe­fri­stete Arbeitseinheit. Sie empfahl die Einrichtung von Frauenreferen­tinnen­stellen und die Sicherung einer Mindestbeteiligung in ökumenischen Gremien und Delegationen (Quote).

Lernerfahrungen bei „Brot für die Welt“ zum Thema Gleichstellung
Die Ziele „Armut überwinden“ und „für Gerechtigkeit eintreten“ stehen seit Jahrzehnten im Mittel­punkt der Arbeit von „Brot für die Welt“. Daraus ergibt sich eine An­knüpfung an sämtliche Ziele der Millenniumserklärung und insbesondere an die Gleich­stellung der Geschlechter. Dass Gleichstellung sich nicht per Beschluss her­stellt, sondern oftmals erst in einem langen, schwierigen und konflikt­behafteten Pro­zess auf den Weg gebracht werden kann, zeigen die Erfahrungen von „Brot für die Welt“ beim Versuch, Gleichstellung in der eigenen Orga­nisation zu verankern und Ge­schlech­tergerechtigkeit in den Dialog und in die Zusammenarbeit mit den Partnern in Afrika, Asien und Lateinamerika einzubringen5. Dabei handelt es sich um einen offenen, wechsel­seiti­gen Lernprozess, der einerseits von internationa­len Gender-Diskursen angeregt wurde, andererseits durch die entwicklungs­poli­tische Praxis im Rahmen des Part­nerdialogs.

 

Situation von Frauen wird verstärkt thematisiert

 

Nachdem Frauen in den Jahresberichten von „Brot für die Welt“ zunächst nur beiläufig erschienen waren, wurden sie 19806 erstmalig als Zielgruppe er­wähnt:Sogenannte Randgruppen der Gesellschaft, wie Alte, Jugendliche, Frauen, Körperbehinderte, ethnische Minderheiten usw. müssen in besonderer Weise unter­stützt werden.“ Der erste Beitrag zur Situation von Frauen erschien 19827: „Frauen sind benachteiligt durch gesellschaftliche Vorurteile und (versteckte/offene) Diskriminierung, sowie durch Rollenvorstellungen.“ Der Beitrag zeigte die Folgen dieser Benachteiligung auf, die in einer übermäßigen körperlichen Arbeitsbelastung, v.a. im häuslichen und land­wirtschaftlichen Bereich und eine Benachteiligung beim Zugang zu Bildung und Aus­bildung lagen. Außerdem wurden Abhängigkeiten durch ungleiche Bezahlung und Be­nachteiligung bei der medizinischen Versorgung und Ernährung in der Familie an­gesprochen.

 

Seit dem Anfang der achtziger Jahre intensivierten Diskussionsprozess zur Situation von Frauen in den Partnerorganisa­tio­nen wurde bei „Brot für die Welt“ die Rolle der Frauen im Entwicklungsprozess verstärkt the­ma­tisiert, und in der Projektarbeit wurde eine Doppelstrategie verfolgt: Frauenförderung durch die Unterstützung eigenständiger Frauenprojekte und die In­te­gration der Frauenfrage in alle Projekte. In dieser Zeit stand die frauenpoli­tische Förderung aller Entwicklungsorganisationen unter dem Motto „Integration der Frauen in den Entwicklungs­prozess”. Man unterstellte, dass Frauen außerhalb von Entwicklung standen, weil es ihnen an Bildung, Gesundheit, Geburtenkontrolle, Einkommen, Rechten und Res­sour­­cen mangelte. Zur Behebung solcher „Defizite“ wurden sie zur speziellen Ziel­gruppe der Entwick­lungszusammenarbeit gemacht. Förder- und Hilfsprogramme sollten ihnen zu den fehlenden Lebens- und Einkommenschancen, Rechten und Ressourcen verhel­fen. Die Problematik der ungleichen Machtverteilung zwischen den Geschlechtern wurde dabei anfangs tendenziell unterschätzt.

 

Die Machtfrage und die Rolle der Männer

 

Im Jahresbericht 1986 thematisierte „Brot für die Welt“ erneut die Situation der Frau­­­en, und zwar genau unter diesem Aspekt: Bisher hätten Entwicklungsprojekte die Arbeitsbelastung von Frauen eher erhöht, aber keine besseren Verdienstmöglichkeiten geschaffen und ihnen kaum so­zi­ale An­er­kennung oder Macht vermittelt. Die Ansprechpartner auf Entschei­dungs­ebe­nen seien nach wie vor überwiegend Männer. Frauenarbeit erscheine minder­wer­tig durch den Männern vorbehaltenen Zugang zu Bildung, Technik und Krediten. Außerdem verschlechtere die „systematische Entwertung der Frauenarbeit durch moderne Ar­beits­methoden“ den sozialen Status der Frauen in ihren Gesellschaften insge­samt.8

 

Aber auch strukturelle Bedingungen und Traditionen in den jeweiligen Ländern seien für Diskriminierung verantwortlich. So sollten die Projekte in Zukunft strukturverän­dernd wirken und die Frauen als Akteurinnen stärken, außerdem wolle „Brot für die Welt“ zur Wertschätzung der von Frauen geleisteten Arbeit und zur Min­de­rung ihrer Arbeitslasten beitragen. Sie sollten Zugang zu angepasster Bildung und medizini­scher Versorgung sowie „Entschei­dungsbefugnisse über Landbesitz, Kredite, den Umgang mit Technik und die Kontrolle über Geldeinkommen“ erhalten.9

 

Erste Geschlechter differenzierende Analysen sowohl zur Situation von Frauen in Über­see als auch zur Mittelvergabe durch „Brot für die Welt“ zeigten, dass zwar erheb­li­che Mittel für Frauen und Frauenprojekte bewilligt wurden, im Vergleich mit männer­domi­nierten oder gemischten Projekten der Anteil von Frauenprojekten aber immer noch gering war. Das Geschehen in der Gesamtförderung der Projekte rückte stärker in den Blick und damit die Analyse der (Macht-)Verhältnisse zwischen den Geschlech­tern. Wie kam es, dass Frauen in Frauenprojekten selbst aktiv wurden, sie an „nor­malen“ Projekten jedoch kaum beteiligt waren und in Führungspo­sitionen gar nicht? Es hatte sich zunehmend gezeigt, dass allein durch die Förderung von Frauen eine nachhaltige Verbesserung ihrer Situation nicht möglich ist.

 

Die Überwindung geschlechtsspezifischer Ungleichheit ist eine Gemeinschaftsaufgabe von Frauen und Männern – gelingt sie, dann können letztlich Frauen wie Männer gleichermaßen davon profitieren. Der Kampf gegen Geschlechterdiskriminierung scheitert häufig an tief verwurzelten Konstrukten von Maskulinität. Solange Männer an tradierten Geschlechterstereotypen festhalten und ihre Identität über unhinterfragte Vorstellungen von männlichem Rollenverhalten definieren, werden sich geschlechtsspezifische Machtverhältnisse kaum verändern.

 

Ab Anfang der 1990er Jahre kam genau das – angestoßen durch mehrere Partnerorganisationen – in den Blick, und der Einsatz von „Brot für die Welt“ richtete sich von nun an auch an Männer. Konkret bedeutete dies die Beteiligung an der inhaltlichen wie finanziellen Förderung von sogenannten Maskulinitäts-Workshops von Partnerorganisationen: Sie helfen Männern, ihr Selbstverständnis zu klären und alternative Rollenkonzepte zu erproben.

 

Zu den Brot-für-die-Welt-Partnern, die eine besonders erfolgreiche Form der Männerarbeit entwickelt haben, zählt das Netzwerk Padare in Simbabwe. Padare umfasst inzwischen 14 Ortsverbände mit jeweils bis zu 4000 männlichen Mitgliedern. Hier werden, eingebunden beispielsweise in Theaterprogramme oder sportliche Aktivitäten, Orte der Begegnung angeboten, die die Männer zum Austausch darüber anregen, was es für sie heißt, ein Mann zu sein. Regis Mutu, ehemaliger Leiter von Padare, beschreibt, dass es vor allem die von Frauen vorangebrachte Genderperspektive war, die es nun auch Männern ermöglicht, sich von angestammten Rollenklischees zu befreien: „Es ist das Verdienst von Frauen, auf die als natürlich angesehenen, geschlechtsspezifischen Stereotype aufmerksam gemacht zu haben. Sie haben Analyseinstrumente entwickelt, die die zugrunde liegenden Machtdynamiken aufzeigen. Jetzt liegt es an den Männern selbst, die zerstörerischen Elemente einer dominanten Vorstellung von Männlichkeit zu hinterfragen“10.

 

Partnerorganisationen von „Brot für die Welt“ führen inzwischen auf allen Kontinenten Maskulinitäts-Workshops durch, die insbesondere für eine nachhaltige Überwindung häuslicher Gewalt eine Schlüsselrolle spielen. In diesem Sinne hatten sich bereits auf der 4. Weltfrauenkonferenz in Peking die Regierungen verpflichtet, gerade auch Männer in die Arbeit gegen Gewalt gegen Frauen einzubinden.

 

Orientierungsrahmen

 

Die Frauenförderpolitik von „Brot für die Welt“ wurde 1993 mit dem Orientie­rungsrahmen der AG KED „Wege zu einer frauengerechten Entwicklungszusammen­arbeit“ systematisiert. Dieses Grundlagenpapier war ein Meilenstein für die Be­schäf­ti­gung mit Genderfragen und die Neubestimmung der Geschlechter­verhält­nisse im Kontext kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit. Hintergrund war die Erkenntnis, dass Frauen in wachsendem Maße die alleinige Verantwortung für die Familie und die Hauptlast für die ökonomische Überlebenssicherung tragen – und dies im krassen Widerspruch zu ihrer Stellung in den wirtschaftlichen, politischen und sozialen Prozessen ihrer jeweiligen Länder. Frauen arbeiten länger, verdienen weniger, haben weniger Zugang zu Bildungseinrichtungen und weniger Rechte in Familie und öffentlichem Leben. Entwicklungszusammenarbeit – so die im Orientie­rungs­rahmen enthaltene Erkenntnis – muss dieser Situation Rechnung tragen, wenn sie zu menschenwürdigen Lebensverhältnissen und zum Abbau von Ungerechtigkeiten beitragen will.

 

Der Orientierungs­rahmen wur­de in alle gängigen Arbeitssprachen übersetzt und mit den Partnerorgani­sationen diskutiert. Darin wird das Selbstverständnis in Bezug auf frauengerechte Entwick­lung wie folgt definiert: „Unsere Förderungen in der Dritten Welt müssen gezielt und verbindlich eine menschenwürdige und damit frauen- und männergerechte Entwick­lung unterstützen. Dies trifft sowohl auf Projekte und Programme zu, bei denen Männer und Frauen zur Zielgruppe gehören, als auch auf spezifische Frauen­pro­gramme. … Unter frauengerechter Entwicklung verstehen wir die besondere Stär­kung (Empowerment) von Frauen in ihrer gleichberechtigten Beteiligung an der Verwirklichung von Menschenrechten und in Entwicklungs­pro­zessen.”
„Den Armen Gerechtigkeit“
Im Jahr 2000 thematisierte „Brot für die Welt“ mit der Erklärung „Den Armen Gerechtigkeit“ die ungleichen Chancen von Frauen und Männern in Wirtschaft und Gesellschaft. Gleichzeitig wird darin auf die zahlreichen Initiativen von Frauen in der ganzen Welt hingewiesen, die sich für den Abbau von Diskriminierung, Überlebenssicherung und die grundlegende Veränderung der sozialen Verhältnisse einsetzen. Männer und Frauen werden ermutigt, die gegenwärtige Rollenverteilung zu hinterfragen und zu erkennen, dass diese nicht nur Frauen benachteiligt, sondern auch Männer belastet. Diese Erkenntnis soll sowohl Männer als auch Frauen zu verändertem Verhalten motivieren. Um diese Prozesse zu fördern, stärkt „Brot für die Welt“ die Gender­kompetenz der eigenen und der Partnerorganisationen. Besonders Fraueninitiativen werden dabei unterstützt, „ihre unmittelbare Lebenssituation zu verbessern, aber auch ihre längerfristigen Interessen zum Ausdruck zu bringen, sie politisch einzufordern und durchzusetzen“.11
Entwurf einer Gender-Strategie
Im August 2007 haben „Brot für die Welt“ und der Evangelischen Entwicklungsdienst (EED) gemeinsam eine Genderstrategie für den Zeitraum 2006 bis 2010 verabschiedet. Diese am Konzept des Gender-Mainstreaming12 orientierte Hand­lungs­­strategie soll dazu beitragen, die Lüc­ken zwischen Theorie und Pra­xis zu schließen und dem Ziel der Geschlechter­ge­rech­tigkeit im Kontext kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit näher zu kommen. Im Genderstrategie-Papier heißt es dazu: “Die Strategie des Gender-Mainstreaming knüpft an bestehende geschlech­terbezogene Aktivitäten in der Aus­lands- und Inlands­arbeit der beiden Werke an und trägt dazu bei, die Aufmerk­sam­keit nicht nur auf Frauen allein, sondern auf Frauen und Männer zu richten. [...] Die Ver­ankerung von Gender Mainstreaming als Querschnittsperspektive in Zusam­men­hang mit Qualitäts-, Organisations- und Personalentwicklung bietet die Möglich­keit, nicht nur additiv im Nach­hinein Frauen – und nun auch Männer – als soziale Gruppe mit ‘besonderen’ Interessen und Bedürfnissen einzubeziehen, sondern systematisch die Gender-Per­spek­tive zu berücksichtigen, Diskriminierung im Geschlechterverhältnis aufzugrei­fen und entsprechend der Kategorien sozialer Schicht, Ethnizität, Religion, sexueller Orientierung, Alter etc. zu differenzieren. “13

 

Weiterführend an der von „Brot für die Welt“ und EED gemeinsam formulierten Genderstra­tegie ist, dass sie konkrete Aussagen darüber enthält, wie und auf welchem Weg gleiche Le­bens­chancen für Frauen und Männer hergestellt werden sollen. Das Ober­ziel der Handlungsstrategie lautet: „Brot für die Welt“ und EED setzen sich aktiv und sicht­­­bar dafür ein, dass gleiche Lebenschancen für Männer und Frauen hergestellt und bestehende Ungerechtigkeiten im Geschlechterverhältnis beseitigt werden.”

 

Aus­gehend von diesem Oberziel werden operative Ziele festgelegt. Deren Umsetzung innerhalb der Organisation kann/soll anhand eines Kriterienkatalogs quantitativer und qualitativer Indikatoren über­prüft werden, die sich nicht allein mit Quotenregelungen abgelten lassen, sondern ernsthaftes Nachdenken aller Akteure über Struktur und Zielrichtung aller Maßnahmen erfordern. So wird mit dem Anspruch ernstgemacht, Geschlechtergerech­tig­keit in der eigenen Organisation zu verankern und nachprüfbare Maßstäbe für die Umsetzung bzw. Fortschrittskontrolle auf diesem Weg zu setzen.
Der Genderansatz erhöht die Sichtbarkeit von Frauen
Im Rahmen einer Februar 2007 abgeschlossenen Studie14 sollte unter­sucht werden, ob gendergerechte Maßnah­men für das Personal des Trägers und bei der Zielgruppe durchgeführt werden, ob spezifische Kriterien in allen Phasen eines Projekts berücksichtigt werden, wel­cher Grad der Partizipation von Männern und Frauen vor­handen ist, ob Gender Budgeting angewendet wird und welche Indi­katoren zur Mes­sung von Gender­gerechtigkeit genutzt werden. Im Rahmen der Studie wurde eine Auswertung des Genderansatzes in 73 von „Brot für die Welt“ geförderten Projekten vorgenommen.15 Die wichtigste Schlussfolgerung der Untersuchung nach Meinung der AutorInnen lautete, dass die Orientierung auf Frauenförderung und die Einführung des Genderansatzes in erster Linie dazu geführt habe, Frauen sichtbarer zu machen. Frauen würden von den Partnerorganisationen und Zielgruppen als Akteurinnen in der Familie, der Gemeinde und in Projekten der Entwicklungszusam­­men­arbeit stärker wahrgenommen und gefördert. Auch sei das Bewusstsein in Bezug auf die Benach­teiligung der Frauen und ihre häufig extrem schwieri­gen Lebenssituationen bei den Partnern und betroffenen Gemeinschaften deutlich gewachsen.

 

Die Ergebnisse der Studie zeigen, dass die Berücksichtigung von Frauenförderung und Genderansatz in zahlreichen Projekten die Situation und den Status von Frauen verbessert haben. Dies wurde vor allem in bezug auf Partizipation und Verhandlungsmacht festgestellt. So sind Frauen in unterschied­li­chen kulturellen Kon­texten, die nicht selten frauenfeindliche Tendenzen aufweisen, sowohl in den Part­ner­organisationen auf institutioneller Ebene als auch auf Zielgrup­penebene in Ge­mein­­degremien oder Basisorganisationen stärker vertre­ten als zuvor. Außerdem haben viele Frauen gelernt, vor einer Gruppe zu stehen, auch in Gegenwart von Männern frei zu reden und eigene Interessen zu äußern. Auch der Zugang zu und die Kontrolle über Ressourcen konnte durch die Projekt­ar­beit ver­bes­sert werden, vor allem aufgrund des erleichterten Zugangs zu Krediten und der Durch­führung einkommensschaffender Maßnahmen im Rahmen von Frau­en­för­derungsprojekten.

 

Projektbeispiele, bei denen es zunächst nur um die Verbesserung der wirtschaftlichen Situation der Frauen durch Training, Beratung und Kreditvergabe im informellen Bereich ging und die sich zunächst nur auf Frauen konzentrierten, die eine eigene wirtschaft­liche Tätigkeit anstreben, haben häufig eine enorme Ausweitung ihrer Ziele und ihrer Wirkungen erfahren: Die Trainings- und Beratungsleistungen des Projekts haben nicht nur zur Verbes­serung ihrer Einkommenssituation beigetragen indem ihre wirt­schaft­lichen Unternehmungen profitabler wurden, sondern auch geholfen, ihre Situation als Frauen besser zu verstehen und mehr Selbstvertrauen zu gewinnen. Sie kön­nen nun in größeren Versammlungen und auch in Gegenwart von Männern spre­chen. Die verbesserte Einkommenssituation hat in einigen Fami­lien zu größeren Mit­sprache- und Verfügungsrechten der Frauen in Fragen des Fami­lienvermögens und der familiären Ressourcen geführt. Sie können in der Regel frei über das Geld verfügen, das sie verdienen, und über die landwirtschaftlichen Produkte, die sie selbst anbauen.

 

Verbessertes Einkommen und erhöhtes Bewusstsein der Frauen haben zu einer Verminderung der Verschuldungsrisiken geführt und den ökonomischen Druck auf Ehemänner, außerhalb nach schlecht bezahlter Saisonarbeit zu suchen, reduziert. Dies hat die sozialen Spannungen in den Familien gesenkt. Die meisten Frauen beteiligen Familienmitglieder an ihren Geschäftsaktivitäten, um mit der steigenden Arbeitsbelastung fertig zu werden. Dies hat die traditionellen Muster der geschlechtsbezogenen Arbeitsteilung innerhalb der Familien beeinflusst. Das Gender-Training hat die Wahrnehmung der Frauen von stereotypen Geschlechterrollen verändert.

Viele Frauen, die vorher im informellen Sektor tätig waren, sind – begleitet durch das Projekt – in die Selbständigkeit hineingewachsen, haben ihre Un­ter­nehmungen offiziell registrieren lassen und bilden sich professionell fort. Einzelne Frauen besuchen inzwischen sogar nationale und inter­nationale Messen, um sich über neuere Entwicklungen in ihrem Geschäftsbereich infor­mie­ren. Einige von ihnen haben durch ihre Geschäfts­tätigkeit wiederum informelle Arbeits- und Einkommensmöglichkeiten für Jugendliche und junge Erwachsene geschaffen und sich so zum Motor der Verbesserung der gesamten ökonomischen Situation der Familie/des Dorfes gemacht, was ihr Ansehen in ihrem sozialen Umfeld erhöht hat.

 

Aufgrund des gestiegenen Bildungsstandes und Selbstbewusstseins engagieren sich viele Frauen in lokalen Gremien und Einrichtungen, einige bei Wahlen zu politi­schen Leitungspositionen. Lokale Grup­pen­leiterinnen vertreten Frauen bei kommunalen politischen Entschei­dun­gen, die ihre Geschäftstätigkeit betreffen, wenn es etwa um Gebühren oder Steuern geht.

 

Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern wird heute in den meisten Partnerorganisa­tio­nen als Ziel verfolgt. Diese haben in der Regel Elemente von Frauenförde­rung und Gen­der­ge­rech­­tig­keit in ihre Arbeit integriert. Oft wird zu­nächst eine Phase der Frauen­för­derung durchlaufen, bevor die Geschlechterverhältnisse auch unter dem Aspekt Gender­gerechtigkeit betrachtet und in die Projekt­konzeption ein­bezogen werden. Dabei ist das Wissen um die Zusammenhänge von Frauenförderung und Gendergerechtigkeit bei den einzelnen Partnerorganisationen sehr unterschiedlich ausgebildet. In der Auswertung werden aber auch Schwächen und Kritikpunkte benannt, wie z.B. Mängel in der Analyse der Genderbeziehungen, unzureichende Verankerung des Genderansatzes in den Sy­stemen zu Planung, Monitoring und Evaluierung, unzureichende fachliche Gender-Kompetenz in eini­gen Partnerorganisationen oder die ebenfalls anzutreffende Diskreditie­rung des Gender­ansatzes als ‘donor driven’.

 

Dies deutet auf eine fortwährende Herausforderung hin: In der Tat entsprang der ganze Genderansatz, wie auch seine sich im Laufe der Jahre ändernden Konzepte unseren Vorgaben. Diese fielen auf unterschiedlich fruchtbaren Boden und wurden unterschiedlich intensiv von den Partnern ange-‚eignet’: von begeisterter Aufnahme – vor allem bei den Frauen und kreativer Weiterdiskussion und –entwicklung, die dann auch für uns und andere Partner neue Impulse gesetzt hat, bis hin zur bloß formalen Akzeptanz.

 

Wiewohl man denken könnte und häufig argumentiert wurde, die Unterschiede wären vor allem kulturell begründet, scheint bei erstem oberflächlichen Draufblick (dies war nicht ausdrücklich Gegenstand der Studie) die Kultur der jeweiligen ethnischen, religiösen und regionalen Zugehörigkeit eine weniger entscheidende Rolle bei der Aufnahme dieses Ansatzes zu spielen, als die Organisationsstruktur der jeweiligen Partner, die durch den Genderansatz ja selbst angefragt wird. Zum Beispiel tun sich verfasste Kirchen mit hierarchischen Strukturen eher schwerer mit dem Genderansatz als außerhalb der Struktur einer verfassten Kirche arbeitende und partizipativ strukturierte christliche Basisgruppen, ökumenische Organisationen oder NGOs. Die Autor/innen stellen indes insgesamt die positive Ten­denz fest, “dass mittelfristig in vielen Organisationen Ent­wick­lungen stattfinden, die zu einer stärkeren Berücksichtigung des Genderansatzes führen.”

 

Geschlechterungerechtigkeit als globale Herausforderung

 

Diese Lernerfahrungen zeigen, dass die Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit ein langer, bei weitem nicht abge­schlossener Prozess ist. Ein Problem, das wohl sämtlichen Gender-Debatten anhaf­tet, ist schon die Sperrigkeit der Sprache. Wichtiger jedoch: da es bei den meisten Geschlech­ter­fragen auch um Macht und Machtverteilung geht, ist dieser Weg natur­gemäß schwierig und konfliktträchtig. Ohnehin wäre es vermessen, zu erwarten, dass eine Neuordnung der Verhältnisse zwischen den Geschlechtern in nur einer oder zwei Generationen vonstatten gehen könnte. Die Überwindung der Geschlechterdiskriminierung ist eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe.

 

Die kirchliche Entwicklungszusammenarbeit will dazu ihren Beitrag leisten, indem sie die Genderkompetenz in den Partner- wie in den Geberorganisationen stärkt. Dadurch können Frauen langfristig und nachhaltig gefördert werden. „Brot für die Welt“ hat zusammen mit seinen Partnerorganisationen auf die Herausforderung der Geschlechterdiskriminierung mit einer Doppelstrategie reagiert, in der das Empowerment der Frauen durch eine Strategie der Genderarbeit und des Gender-Mainstreaming ergänzt wird.

 

Mit diesem doppelgleisigen Ansatz hat „Brot für die Welt“ eine Vorreiterrolle eingenommen und gemeinsam mit den Partnern Handlungskonzepte entwickelt, die auch angesichts der zukünftigen Entwicklungsaufgaben Bestand und Geltung haben. Allerdings ist es noch längst nicht gelungen, das Gender-Mainstreaming tatsächlich so zu verankern, dass dies als eine Aufgabe begriffen wird, die Frauen und Männer gleichermaßen angeht. Auf allen gesellschaftlichen Ebenen ist die Neigung groß, das Thema „Gender“ als reine Frauensache zu betrachten. Die Überwindung geschlechtsspezifischer Macht- und Ohnmachtverhältnisse kann aber nur gelingen, wenn Frauen wie Männer ihre Rollen hinterfragen und neu finden.

 

Dass gerade auch die Männer Teil des Problems sind, zeigt sich besonders deutlich an zwei der eingangs genannten Herausforderungen, bei denen die Diskriminierung von Frauen besonders brutal zum Ausdruck kommt: der alltäglichen häuslichen Gewalt gegen Frauen und dem bedrückenden Ausmaß von Frauenhandel und Zwangsprostitution.

 

Häusliche Gewalt ist ein weltweites Phänomen und zählt zu den am weitesten verbreiteten Menschenrechtsverletzungen: Bis zu 71 Prozent der Frauen, die bei einer von der Weltgesundheitsorganisation auf fünf Kontinenten durchgeführten Studie befragt wurden, gaben an, mindestens einmal in ihrem Leben Opfer von körperlicher oder sexueller Gewalt in ihrer Familie geworden zu sein. Auch in Deutschland wird jede vierte Frau mindestens einmal in ihrem Leben Opfer häuslicher Gewalt; in Äthiopien erleidet dieses Schicksal jede zweite Frau. In Indien wird alle neun Minuten eine Frau von ihrem Partner misshandelt. 70 Prozent aller Männer und 90 Prozent aller Frauen in Uganda betrachten das Schlagen der Ehefrau als legitimes Mittel der ehelichen Konfliktlösung.

 

Mit dem dreijährigen internationalen Austauschprojekt „Häusliche Gewalt überwinden“, das 2003 als Beitrag zur Ökumenischen Dekade gestartet wurde, haben das Diakonische Werk der EKD und „Brot für die Welt“ einen lebhaften Prozess in Gang gesetzt, in dessen Verlauf sich Akteure aus Ost und West, Nord und Süd über Strategien und Maßnahmen im Kampf gegen die häusliche Gewalt ausgetauscht haben. Mit diesem Projekt ist nicht nur ein grenzüberschreitendes, gemeinsames Lernen in Gang gesetzt worden, es ist auch gelungen, etwa mit der interaktiven Ausstellung „Rosenstraße 76“, eine breitere Öffentlichkeit zur Auseinandersetzung mit diesem häufig verdrängten alltäglichen Gewaltproblem zu bewegen. Die ermutigenden Erfahrungen mit dem Dekadeprojekt zur häuslichen Gewalt sind in einer soeben erschienenen Publikation ausführlich dokumentiert16.

 

Partnerorganisationen im Süden und Osten machen darauf aufmerksam, dass die Modernisierung der Wirtschaft und die Einflüsse der Globalisierung in den armen Ländern dazu beitragen, das Ausmaß der häuslichen Gewalt gegen Frauen noch zu verschlimmern. Wachsende Konsumwünsche, aber auch der Verlust der Kontrolle der Frauen über die Überlebensgrundlagen der Familie, führen häufig dazu, dass sich das innerfamiliäre Gewaltpotenzial verschärft.

 

Mit der Globalisierung und der wachsenden Mobilität geht auch die Zunahme des grenzüberschreitenden Frauenhandels einher. Nach UN-Angaben arbeiten in Westeuropa rund eine halbe Million Zwangsprostituierte, insbesondere aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks sowie aus dem Süden, unter sklavenähnlichen Bedingungen. Alleine in der EU werden jährlich schätzungsweise 200.000 Prostituierte von skrupellosen Menschenhändlern an Zuhälter verkauft. Anlässlich der Fußballweltmeisterschaft in Deutschland hatte die Diakonie mit der Aufklärungsinitiative „Handeln gegen Zwangsprostitution“ ausdrücklich an die Verantwortung der männlichen Freier appelliert. Gleichzeitig wurde auf die Hilfsangebote für Frauen, die Opfer von Menschenhandel und Zwangsprostitution geworden sind, aufmerksam gemacht.

 

Angesichts dieser extremen Formen, in denen sich die Ungleichheit der Geschlechterverhältnisse besonders klar zeigt, besteht wachsender Handlungsbedarf. Sie stehen weiterhin auf der Agenda von kirchlicher Entwicklungszusammenarbeit und Diakonie.

 

Auf der Tagesordnung der internationalen Politik und der Weltöffentlichkeit scheinen indes Fragen der Geschlechterdiskriminierung derzeit eher in den Schatten anderer globaler Probleme zu rücken. Der weltweite Klimawandel und die Bewältigung seiner Folgen, die Sicherheitsgefahren durch den internationalen Terrorismus, das Ende des billigen Öls und die wachsende Konkurrenz um knapper werdende Rohstoffe beherrschen die Schlagzeilen. Dabei ist daran zu erinnern, dass keine der großen Fragen, die die Zukunftsfähigkeit der Weltgesellschaft betreffen, „geschlechterneutral“ diskutiert werden kann. Von ökologischen Gefahren und Gewalt, Krieg und Armut sind Männer und Frauen häufig in unterschiedlicher Weise betroffen, und alle Strategien, die ergriffen werden, um eine nachhaltige Entwicklung zu befördern, müssen konsequent auf ihre geschlechterspezifischen Auswirkungen hin beobachtet und geprüft werden.

Fazit
Einerseits lässt sich sagen: Es ist schon viel erreicht worden und die Geschlechterverhältnisse bewegen sich. Es gibt positive Ansätze und Veränderungen, Frauen sind sichtbarer geworden und werden auch als Akteurinnen wirt­schaft­licher und sozialer Entwicklung stärker wahrgenommen.

Andererseits bleibt bei der Verwirklichung der Millenniumsziele noch viel zu tun. Alle acht Ziele enthalten wichtige Gender-Aspekte, die nur gemeinsam, in konstruktiver Zusammen­arbeit von Männern und Frauen, erreicht werden können. Gleiches gilt auch für den visionären Anspruch, den Armen Gerechtig­keit widerfahren zu lassen. Schließlich ist Armut bis heute “weiblich”, und es bedarf weiterhin großer Anstrengungen, dass sich dies endlich ändert.

 

1Vgl. ÖRK: Die Ökumenische Dekade Solidarität der Kirchen mit den Frauen, Genf 1989.

2Schlusserklärung der Deutschen Dekadekonferenz zum Ende der Ökumenischen Dekade „Solidarität der Kirchen mit den Frauen“ vom 30. April 1998

3Vgl. epd Dokumentation 49/86 S. 10, und Jahresbericht Brot für die Welt 1986.

4Vgl. epd-Entwicklungspolitik, Materialien, VII/89.

55

6Vgl. Jahresbericht 1980, S.14.

7Vgl. Jahresbericht 1982, S. 28.

8Jahresbericht 1986, S. 31.

9Vgl. Jahresbericht 1986, S. 32.

10 Zit. nach Diakonisches Werk der EKD (Hrsg.): Häusliche Gewalt überwinden. Eine globale Herausforderung. Erfahrungen und Empfehlungen aus einem internationalen Projekt. Stuttgart, Dezember 2007.

11 Den Armen Gerechtigkeit 2000“, Brot für die Welt, Stuttgart 2000.

12Der Wirtschafts- und Sozialrat der Vereinten Nationen definierte 1997 Gender Mainstreaming als den “Prozess, alle geplanten Aktivitäten einschließlich von Gesetzgebung, von Politiken und Programmen auf allen Gebieten und auf allen Ebenen hinsichtlich ihrer Wirkungen auf Frauen und Männer festzustellen.”

13Vgl. Genderstrategie-Papier “Wir schließen die Lücke zwischen Theorie und Praxis” – eine Handlungsstrategie zur Förderung gleicher Le­bens­chancen für Frauen und Männer mit den Programmen von EED und Brot für die Welt, August 2007, S. 7f..

 

14 FAKT, Carsta Neuenroth et al.: Frauen sind sichtbarer geworden, aber Gender geht Frauen und Männer an! Stuttgart 2007 .

15Die Auswahl der 73 Projekte erfolgte anhand einer gerichteten Stichprobe; sie stellen 6,5 % von insgesamt 1.126 laufenden Projekten dar. Es wurden nur Projekte ausgewertet, die ab 2003 zur Bewilligung vorlagen.

16Diakonisches Werk der EKD (Hrsg.): Häusliche Gewalt überwinden. Eine globale Herausforderung. Erfahrungen und Empfehlungen aus einem internationalen Projekt. Stuttgart, Dezember 2007.